Die Methode Rimini Protokoll

Mit der Produktionsserie „Staat 1-4“ gastierte die Künstlergruppe Rimini Protokoll gerade im Haus der Kulturen der Welt. Ihr Hauptquartier ist nicht weit entfernt, seit 2003 ist ihr Produktionsbüro im HAU Hebbel am Ufer. Auftritte haben sie in ganz Europa. Sie sind vielfach ausgezeichnet worden, so etwa 2011 mit dem Silbernen Löwen der 41. Theaterbiennale Venedig für ihr Gesamtwerk. Ein „Theater als Forum der Gegenwart“, schreibt der Intendant des HKW, Bernd Scherer, im Programmheft zu „Staat 1-4“. Ihr Alleinstellungsmerkmal sind die „Experten des Alltags“ wie der Kulturkritiker Boris Buden im Programmheft schreibt. Bei Rimini Protokoll stehen weniger Schauspieler als vielmehr Experten aus Wissenschaft, Politik, Kultur auf der Bühne. Unsere Gegenwart versucht Rimini Protokoll solchermaßen zu durchdringen und verständlicher zu machen. Das ließe sich auch als Wissenschaftskommunikation bezeichnen. Handelt es sich vielleicht auch um eine politisch-ästhetische Methode, von der wir für die Nachhaltigkeitskommunikation lernen können? Ein Theater als „Forum für die Zukunft“?

Wie in meinem Blogbeitrag „Theater der Nachhaltigkeit“ vom 8. Januar 2018 angesprochen, ist Rimini Protokoll für die Klimakommunikation insbesondere durch ihre Produktion Welt-Klimakonferenz von 2014 im Hamburger Schauspielhaus bedeutsam geworden. Da waren vor allem Klimaexpert*innen die Performer. Die Themen, denen sie sich in Staat 1-4 angenommen haben, zielen nicht unmittelbar auf den Klimawandel. Doch Klimakultur ist bekanntlich komplex. Und oft lassen sich erstaunliche Beziehungen herstellen.

Ich bin nun der Überzeugung, dass wir – und das ist der Anlass für den vorliegenden Text – für die Nachhaltigkeitskommunikation so einiges von Rimini Protokoll lernen können. Es geht doch nicht nur darum, neue Konzepte und neue Formate zu entwickeln, sondern auch zu schauen, worauf wir zurückgreifen können. Wenn wir uns ansehen, wie Rimini Protokoll Ästhetik und Politik verbindet, Wie kann politisches und gesellschaftliches Handeln und Ästhetik kombiniert werden? Was können wir aus diesen Produktionen für die Nachhaltigkeitskommunikation lernen? Womit arbeiten wir vielleicht ja schon?

Ich will in diesem Blogbeitrag zunächst beschreiben und vorstellen, wie Rimini Protokoll Ästhetik und Politik verbinden, wie Kunst und gesellschaftliches Handeln in ein produktives Gefüge gebracht werden und ob dies immer gelingt. Der Text ist also weitestgehend eine Rezension, eine Theaterkritik mit einem bestimmten Fokus sozusagen. Dabei benutze ich informative Verlinkungen, oder solche, die den Horizont ein weiteres Mal erweitern können. In einem dann später folgenden Blogbeitrag will ich versuchen, zusammenzutragen, was wir daraus für unsere Arbeit lernen können. Aber dazu brauche ich euch, die Leser. Ich möchte euch bitten, eure Meinung kund zu tun. Vielleicht sind unter euch ja einige, die eine der Produktionen von Rimini Protokoll gesehen haben. Die anderen können sich auf der Basis meines Textes einen Eindruck verschaffen. Schreibt eure Vorschläge dazu, was wir mit der Rimini-Methode, wie ich sie nennen will, in der Nachhaltigkeitskommunikation, im informellen Lernen, in der BNE anfangen können. Wenn genug Kommentare vorliegen, werde ich, wie gesagt, einen weiteren Blogeintrag schreiben, der auf alle Meinungen eingeht.

Staat 1

„Staat 1: Top Secret International“ wurde am 10.12.2016 als Produktion der Münchner Kammerspiele in der Glyptothek München uraufgeführt. In Berlin befinden wir uns im Neuen Museum. Die Räume, in denen die Exponate des Ägyptischen Museums, des Museums für Vor- und Frühgeschichte und der Antikensammlung – wie etwa die Büste der Nofretete – zu sehen sind, werden zum Handlungsort einer „Recherche im globalen Netz der Nachrichtendienste“, Informationen werden ausfindig gemacht, gesammelt und analysiert“ (Pressetext).

Zu Beginn erhalte ich einen Kopfhörer und einen Block für Notizen, in den ein Sender eingebaut ist. Per Audiostream werde ich durch einen Teil der Ausstellung navigiert und mit Informationen und Geschichten zur Welt der Geheimdienste gefüttert. Dabei wird auch auf Originalstimmen von Expert*innen zurückgegriffen, wie etwa dem ehemaligen Mitarbeiter des CIA John Kiriakou, der ehemaligen Sicherheitsberaterin im Weißen Haus Gwenyth Todd oder Jacob Appelbaum, Journalist und Spezialist für Computersicherheit. Die Geschichten der Ausstellungsexponate und die Geschichten des Audiostreams treten in Wechselwirkung. Fragen der modernen Spionage werden mit Wissen zu Geheimdiensten im Alten Ägypten kontextualisiert. Alte und neue Machtkonstellationen treten in einen Dialog miteinander. Ein Beispiel: Von der Büste der Königin Nofretete ist ein Blick durch die Räume „Bibliothek der Antike“, „Knabe von Xanten“ und „Roms Provinzen“ in den Saal „Römische Götter“ möglich. Diese Blickachse der Macht ist vom Museum intendiert. Sie wird durch den Audiostream neu kontextualisiert.

Staat 1 Rimini-Protokoll, Copyright: Kevin Fuchs

Ich muss sehr aufmerksam zuhören, sonst laufe ich in die falsche Richtung oder verpasse eine Aufgabe, die mir gestellt wird. Ich sehe andere „Geheimdienstler“ orientierungslos zwischen den Säälen wechseln. Das soll mir nicht passieren. Die Aufgabe besteht etwa darin, meine Haltung zu einem Bereich der Spionage zu äußern, indem ich mit deinem Notizblock und Sender winke oder es unterlasse. Wenn etwas nicht funktioniert, sind sofort Helfer*innen mit Tablets zur Stelle. Durch die Sender in den Notizblöcken kann ich jederzeit geortet werden. Ich fühle mich nach und nach als geheimes Mitglied einer Gruppe, die im Unterschied zu den anderen Museumsbesuchern eine Mission erfüllt. Gamification und Immersion lauten die zentralen Mittel dieser Aufführung, du wirst zu einem Spieler, der sich Regeln folgend durch das Museum bewegt und eine spezielle Story erzählt bekommst, die nur für die Auserwählten ist. Die beiden Wahrnehmungsformen akustisch und visuell treten in ein interessantes Spannungsverhältnis. Du hörst aus dem OFF einer anderen Geschichte zu als der der die du ON siehst bzw. die Geschichte, die du hörst, musst du erst in einen Zusammenhang mit dem, was du siehst und (auf Texttafeln der Ausstellung) liest, gebracht werden – auch wenn du immer wieder Hinweise erhältst. Es geht hier weniger um die Ton-Bild-Schere (respektive Text-Bild Schere), sondern mehr um ein intermediales Verfahren, also um eine Vorgehensweise, die Medien fusioniert und das bewusst macht, was sich zwischen den Medien oder medialen Orten kognitiv in uns abspielt, zwischen dem Museum und dem Hörstück als Audiostream. „Top Secret International“ schult die Wahrnehmung und liefert in 90 Minuten einen spannenden und durch den Handlungsort stark kontextualisierten Einblick in die Welt der Geheimdienste.
„Staat 1: Top Secret International“ ist noch bis zum 25.3.2018 im Neuen Museum zu sehen.

Staat 1 Rimini-Protokoll, Copyright: Kevin Fuchs

Staat 2

In „Staat 2: Gesellschaftsmodell Großbaustelle“ (Premiere war am 12.5.2017 im Düsseldorfer Schauspielhaus) werden wir im Haus der Kulturen der Welt in die Ausstellungshalle 1 (der Bereich hinter der Kasse in der Eingangshalle) eingelassen. Die „szenische Baustellenführung“ (Pressetext) ist wie ein Stationentheater (nicht Stationendrama, das ist etwas anderes), in dem die Zuschauer nicht still sitzen oder stehen, sondern sich bewegen müssen, weil es mehrere Stationen gibt, wo etwas passiert. Das Publikum wird in Gruppen eingeteilt und erhält je nach Station Rollen zugewiesen, innerhalb derer sie zuhören oder auch selber agieren müssen. An diesen Stationen finden sich wieder Expert*innen: So erzählt Alfredo di Mauro, sein Kopf lugt aus aus einem künstlichen Sandhaufen, von seinen Erfahrungen beim Bau des neuen Berliner Flughafens BER, wo er von 2007-2014 maßgeblich an der Planung der Entrauchungsanlage beteiligt war. Dieter Läpple, Professor emeritus für Internationale Stadtforschung an der HafenCity Universität Hamburg, erzählt den auf einer Tribüne platzierten Zuschauern von einem städtebaulichen Entwicklungsprojekt in Äthiopien oder vom Mega-Städtebau in Singapur.

In „Staat 2: Gesellschaftsmodell Großbaustelle“ wird das Experten-Konzept zum Problem. Das Publikum kann einige Aussagen der Expert*innen nicht verifizieren, müsste dies aber tun, um sich ein differenziertes Urteil bilden zu können. Die Expert*innen, die Rimini Protokoll zu Performern macht, um Wissen, Erfahrungen und Kompetenzen mit dem Publikum zu teilen, müssen glaubwürdig sein. Ist das aber so, wenn Alfredo Di Mauro sich allzu sehr als Opfer Hartmut Mehdorns (Vorsitzender der Geschäftsführung von 2013-2015) inszeniert, der ihn im Mai 2014 kurzerhand entlassen hatte, weil die Entrauchungsanlage als fehlerhaft beurteilt wurde. Damals wurde Di Mauro in den Medien als Hochstapler bezeichnet, weil er, ein gelernter technischer Zeichner, sich als Ingenieur ausgegeben haben soll. Ob dies ausschlaggebend für den Auftrag beim BER war und wie es zu diesem Streitpunkt überhaupt kam, wird in „Staat 2: Gesellschaftsmodell Großbaustelle“ nicht verhandelt. Allerdings ist dazu auch nach einer Internetrecherche nur Rudimentäres zu finden. Nun ja, Di Mauro liegt dazu noch im Rechtsstreit. Das sagt er auch in der Aufführung. Wenn Andreas Riegel, ein Rechtsanwalt und Experte für „wirtschaftskriminell infizierte Grußbauvorhaben“ (Programmheft) auf einem Turm in der Mitte der künstlichen Baustelle positioniert aber darlegt, dass bei nahezu jeder Großbaustelle in Deutschland Korruption im Spiel sei, stellt sich die Frage, wie man als Zuschauer sein entstehendes Misstrauen so organisieren kann, dass Di Mauro zu trauen ist. Weil er bei Rimini Protokoll mitmacht? Interessant ist, dass die Zuschauer, die eher als Teilnehmende zu bezeichnen sind, die Informationen zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Aufführung bekommen. Die Gruppen rotieren von Station zu Station, an jeder Station findet gleichzeitig das jeweilige Programm statt, das sich aber aufeinander bezieht. Dadurch entstehen immer wieder neue Wechselbezüge und Kontexte, wodurch das benannte Experten-Problem wieder relativiert wird.

Staat 2 Rimini Protokoll, Copyright: Benno Tobler

Staat 3

In „Staat 3: Träumende Kollektive. Tastende Schafe“ (Premiere war 23.9.2017 im Staatsschauspiel Dresden) begebe ich mich zum Ausstellungssaal 2 im HKW. Ich gehe die Treppe runter. Vor dem Saal sitzen schon einige Besucher. Sie tragen keine Schuhe. Auch ich muss sie ausziehen. Im Saal werden alle in sich gegenübersitzenden Paaren auf Sitzhocker platziert. Vor dir in Augenhöhe ist ein Smartphone an einen kleineren Quader montiert, der auf einem Ständer befestigt ist. Auf dem Display wählst du die Sprache aus. Alle Plätze sind belegt. Es kann losgehen. Durch das Programm führen, mehr als Performer und Moderatoren denn als Experten, der in Athen geborene Schauspieler Kostis Kallivretakis und der in Köln geborene Schauspieler und Regisseur Vassilis Koukalani, der halb griechischer, halb iranischer Herkunft ist. Nein, es gibt noch jemanden. Iris. Siri von hinten nach vorn gelesen. Nur eine Stimme. Eine weibliche, sehr mädchenhafte Stimme. Die Stimme der App, die eigens für die Produktion programmiert wurde.

Wir befinden uns in der Zukunft, im Jahr 2048. Die künstliche Intelligenz Iris wird die Geschicke des Staates lenken (wir werden daran erinnert, dass Iris eine Gottheit der griechischen Mythologie ist). Der Mensch macht zu viele Fehler. Wollen wir das? Dazu stellt uns Iris unterschiedliche Multichoice-Fragen (die auf dem Display des Smartphones eingeblendet werden) und wertet sie aus. So bilden sich Koalitionen, Gruppen, die auf Fragen die gleiche Antwort gegeben haben. Die Koalitionen wechseln. Es kommen weitere Fragen, etwa dazu, was in Griechenland in den letzten Jahren passiert ist, zum Referendum 2015, als Griechenland weitere Sparmaßnahmen ablehnte. Kostis Kallivretakis und Vassilis Koukalani erzählen, was sich damals zugetragen hat, welche Positionen sie dabei vertreten haben.

In „Staat 3: Träumende Kollektive. Tastende Schafe“ ist der Theaterbesucher kaum noch Zuschauer, sondern komplett Mitakteur. Er agiert aber zunächst interaktiv mit der App, erst die Auswertung seiner Antworten durch die App macht ihn zu einem Akteur, der sich bewegen, der etwa auch den Raum mit den Quadern immer wieder umgestalten und mit den anderen Besuchern interagieren muss. Dies alles wird von den beiden Performern klug moderiert und mithin humorvoll kommentiert. Ich fühlte mich in den etwa zwei Stunden auf sehr unterhaltsame Art und Weise aktiviert.

Staat 3 Rimini Protokoll, Copyright: Benno Tobler

 Staat 4

„Staat 4 Weltzustand Davos“ wurde erst vor kurzem, am 12.1.2018 im Schauspielhaus Zürich uraufgeführt und führt uns nun in den großen Saal im HKW. Der ist aber überraschend umgestaltet. Dort wo sonst die ersten Reihen und die Bühne sind, ragt ein Theaterbau auf, der von Außen an Shakespeares Globe Theater erinnert. Drinnen befinden wir uns in einer Art Amphitheater, die Zuschauerränge um eine ovale, mit Kunstschnee bedeckte Arena angeordnet. Dort steht Hans Peter Michel, der ehemalige Landammann von Davos, der gestaltender Verhandlungspartner des WEF, des World Economic Forum war. Er erzählt vom Weltwirtschaftsforum in Davos. Zu ihm gesellen sich weitere vier Expert*innen. So etwa Cécile Molinier, die 35 Jahre für die UN gearbeitet hat, davon 20 Jahre für das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP). Oder Otto Brändli, Lungenarzt mit einer eigenen Praxis in Zürich, der sich intensiv mit der weltweiten Renaissance von Tuberkulose beschäftigt. Das Schweizer Alpenstädtchen Davos war ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine Lungenheilstätte, lebte von Tausenden Tuberkulose-Patienten, die sich dort behandeln ließen (Luftkur). Thomas Manns „Der Zauberberg“ spielt in Davos. 1971 fand hier zum ersten Mal das European Management Forum statt. 1987 wurde es in World Economic Forum umbenannt. Für Davos bedeutete das eine neue Einnahmequelle, nachdem die Verbreitung von Tuberkulose zurückgegangen war.

Für die Dauer der Produktion nehmen die Zuschauer*innen die Biografie eines international tätigen Konzernchefs an und kurz repräsentieren sie auch ein Mitgliedsland der UNO. Hierfür befand sich ein Ringbuchblock unter jedem Sitz, mit Informationen zum Konzern und einer Badge am Band. Ich war Satya Nadella, aktueller CEO von Microsoft. Wie viele andere wurde ich von den Expert*innen zu meiner Firmenpolitik befragt, andere mussten sich einer Kritik unterziehen wie etwa Hugh Grant, nicht der britische Schauspieler, sondern der Geschäftsführer von Monsanto. Wie in den anderen Produktionen wurde auch hier mit Mitteln der Immersion gearbeitet. Hierzu wurde auf 360 Grad-Fotografien und -Videos zurückgegriffen, die hinter den Zuschauerreihen an die Rundwand projiziert wurden. Per Video flogen wir so mit dem Helikopter nach Davos. Zum Schluss mündeten die Gamification-Elemente – die Zuschauer in Rollen schlüpfen lassen, während die Performer auf der eigentlichen Bühne sich selbst spielen – in ein explizites Spiel: die fünf Expert*innen spielten „Eishockey“.

Die Methode Rimini-Protokoll

Die Methode Rimini Protokoll ist eine Mischung aus politischem Theater, Performance, Happening, Dokumentartheater, Workshop und anderen Elementen. Gerade die Mischung, das Hybride ihres Theater bzw. Kunstkonzepts macht den Reiz aus. Wenn wir den Ästhetikbegriff darauf anwenden wollen, dann ließe sich von einer „Ästhetik des Performativen“ sprechen. Das ist oft so beim sogenannten postdramatischen Theater, einem Theater, das nicht mehr die Adaption eines Dramentextes ins Zentrum stellt. Damit meint die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte Ereignisse, in denen eine künstlerische Ästhetik aufgelöst wird, weil das Dargestellte nicht mehr eindeutig oder gar nicht mehr als Artefakt betrachtet werden kann. Partizipative Kunst, wenn der Zuschauer zum Partizipieren eingeladen wird und zum Mitakteur wird, weist sehr oft eine Ästhetik des Performativen auf. Bei Rimini Protokoll findet sich dies in variierendem Umfang und Qualität. Wesentlich sind dabei die „Experten des Alltags“. Sie tragen dazu bei, dass wir fundiertes Wissen vermittelt bekommen, dass keine Berührungsängste auftreten, die zwischen Publikum und einem professionellen Schauspieler, der eine Rolle spielt, auftreten könnten. Durch die Expert*innen werden die Produktionen von Rimini Protokoll auch zu einer Spielart der Wissenschaftskommunikation. Nicht jeder Experte, nicht jede Expertin weist performatives Talent auf. Aber das gehört ja auch dazu, wenn es um die Auflösung der Grenzen zwischen Kunst und Alltag geht. Rimini Protokoll erreichen dies zudem mit einem enormen logistischen Aufwand. „Staat 2: Gesellschaftsmodell Großbaustelle“ ist eine logistische Meisterleistung, die auf eine perfekt funktionierende digitale Ausstattung zurückgreift. Das Problem des Ganzen: Es ist für ein eingefleischtes Publikum. Ich habe bei vielen Gesprächen gelauscht und alle schienen Rimini Protokoll zu kennen.

Kommen wir auf das Anliegen dieses Textes zurück. Wenn wir in der Nachhaltigkeitskommunikation, in der Bildung für nachhaltige Entwicklung, im informellen Lernen nach dem Partizipativen suchen, dabei ästhetisch anspruchsvoll sein und gleichzeitig von der Digitalität Gebrauch machen wollen, können wir dann nicht einiges von Rimini Protokoll adaptieren? Was müssen wir wie adaptieren, um auch andere Menschen als die zu erreichen, die regelmäßig ins Haus der Kulturen der Welt gehen?

Jetzt sind die Leser*innen an der Reihe. Ich halte mich fürs erste zurück. Ich habe natürlich einige Ideen und Thesen, will aber nicht vorgreifen. Ich wünsche mir zahlreiche Kommentare, rege Teilnahme. Was können wir eurer Meinung nach von Rimini Protokoll mitnehmen? Eure Kommentare und meine Ideen werden von mir in einem weiteren Blog-Beitrag zusammengetragen.

Thomas Klein

(Beitragsbild: Staat 4 Rimini Protokoll, Copyright: Benno Tobler)

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4 Kommentare

  1. Ich habe den umfangreichen Text nicht komplett gelesen, kann aber nur zustimmen, dass Rimini Protokoll ein wirklich unglaublich gutes Gespür dafür hat, sehr komplexe Dinge erfahrbar und spürbar zu machen: Mit einer Gruppe von etwa 70 Schüler*innen besuchten wir im Oktober 2015 im Rahmen unserer KlimaKunstKampagne http://klimakunstschule.bildungscent.de/kampagne/klimakunstkampagne/ die oben beschriebene Weltklimakonferenz im Hamburger Schauspielhaus. Die jungen Menschen waren nicht nur beeindruckt. Es fand – so würde ich jetzt mit einigem Abstand sagen – eine Politisierung statt, die sich in konkreten Klimaschutzprojekten verwirklichte. Was hat da gewirkt? Unsere Theorie ist, dass (in diesem Fall junge) Menschen durch das Eintreten in den Bereich des Künstlerischen eine veränderte „Version von sich selbst“ außerhalb von Funktionszusammenhängen erleben. Dies kann neue Perspektiven auf die eigenen Potenziale eröffnen, die unter günstigen Bedingungen in konkretes Handeln münden. Unverzichtbar ist – so wie häufig in den Produktionen es Rimini Protokoll – das Gemeinschaftserlebnis und und die Erfahrung, dass alles, was ich tue an anderer Stelle Dinge bewegt.

    Von Staat konnte ich leider nur bei Großbaustelle dabei sein, was abermals ein großartiges und bewegendes Erlebnis war.

  2. Friedrich

    Hallo Thomas, das klingt in der Tat sehr spannend und, wie Silke schreibt, bietet das Rimini-Protokoll sicherlich auch für Schulen eine großartige Möglichkeit. Auch ich würde das gern einmal ausprobieren. Aber der Akzent liegt auf „Probieren“, denn das muss man m.E. in der Tat. Allein über die textliche Darstellung lässt sich das nur begrenzt nachempfinden und beurteilen. Vielleicht kannst du an dieser Stelle darauf aufmerksam machen, wenn du von irgendwelchen Teilnahmemöglichkeiten erfährst.

  3. Es ist ein sehr sinnvoller Vorschlag, die Rimini-Methode für BNE zu erschließen. Mit und ohne App. Aber sie muss wirklich erst noch erschlossen werden. Sie ist sicher nicht einfach nur zu adaptieren, da wir es a) mit hochkomplexen und dynamischen Transformationsprozessen zu tun haben, die eine ganz eigene Herausforderung an Inszenierungen bedeuten, b) da wir für die Betrachtung/ Erfassung dieser Phänomene eine Vielzahl von Perspektiven einzunehmen haben, deren je eigene Erzählungen wir irgendwie zusammenbringen müssen und c) da wir über uns und unser Handeln und Verhalten in Bezug auf Zukunft, also die Fähigkeit zu kulturvollem Überleben zu verständigen haben. Aber nochmal: sie ist eine Lernmethode mit hohem Potenzial. Was sie – wie fasst alle Lernmethoden (noch) nicht hat ist die reale Erschließung von Gestaltungs- und Fortschrittsräumen, die problemadäquate Lösungen/Veränderungen dauerhaft zulassen. Dazu muss man natürlich aus Museen und Kulturtempeln herausgehen.

  4. Sina Ribak

    Die Antwort auf deine Frage lautet ‘Ja’.

    Meine kleine Rimini-Erfahrung kommt aus dieser Ausstellung:
    http://www.cccb.org/en/exhibitions/file/after-the-end-of-the-world/224747
    http://www.cccb.org/en/multimedia/videos/win-win-an-immersive-installation-on-climate-change/228750

    Gut fand ich, dass Sonntags – während die Ausstellung kostenfrei war – ein gemischteres Publikum erreicht wurde, das das Rimini Protokoll nicht kannte und sich ganz unbedarft in der Installation einfand.

    Deine Schlagworte ‘Experten des Alltag’, ‚produktives Gefüge von Kunst und gesellschaftlichem Handeln’, Immersion, ‘auserwählte Spieler in einer speziellen Story’, Mitakteur, ‘fundiertes Wissen ohne Berührungsängste’, Digitalität, sehe ich als wichtige Elemente, die in BNE und der Nachhaltigkeitskommunikation angewandt werden sollten.

    Es wäre spannend die Rimini Methode mit existierenden virtual reality Filmen zum Thema anzuwenden und dadurch mit Themen der eigenen Region zu verknüpfen.
    Als Beispiel die virtual reality Filme der UN zu den SDGs :
    http://unvr.sdgactioncampaign.org/vr-films/

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