Eine neue Form der Ästhetik des Widerstandes „Der Perlmuttknopf“ von Patricio Guzmán, besprochen von Joachim Borner
Es gibt Filme, die nehmen einen als Zuschauerin oder Zuschauer vom allerersten Augenblick an auf. Sie strahlen einen Zauber aus und haben etwas Wohltuendes. Es geht dabei nicht ums Verführen – eine Aktion, die das Kino im umfassenden Sinn auch beherrscht. Nein: Es geht um ein Hinführen, hinein in das, was uns ihr Autor erzählen, was er uns näher bringen will. Das kann eine erfundene Geschichte sein, dann nennt man es einen Spielfilm, es kann die in Bilder und Töne gefasste Begegnung mit dem Realen sein, dann wird man von einem Dokumentarfilm reden.
Einer, der die Kunst des Dokumentarischen in ganz neuer Weise beherrscht wie wenige, ist der Chilene Patricio Guzmán.“ Ist das noch Dokumentation? Guzmán erzählt uns von seiner Philosophie des Wassers – und was dieses Wasser alles ertragen, an leidvollen Geschichten sammeln, bewahren und erzählen muss: Den Genozid an den fünf Seefahrervölkern in Patagonien und die im Meer Verschwundenen der durch die USA finanzierten Pinochet-Diktatur.
Das Faszinierende, Schillernde, Bewegende, Packende, das Traumwandlerische ist es, dass seine Filme so spielerisch leicht wirken, obschon sie von Dingen erzählen, auf die die Menschheit nicht stolz sein kann. El botón de nácar.
Nun ist es ein Tauchen im Ozean, der Chile umbrandet, und ein Auftauchen in dem, was Menschen im Lauf der Jahrhunderte da getrieben haben. Patricio Guzmán geleitet uns, führt vom Kleinen ins Große und wieder zurück. Er schafft Zusammenhänge, erzählt von den Ureinwohnern, die einst in Patagonien lebten und davon, was ihnen geschah, von einem britischen Seefahrer, der zur Erzählfigur wurde, Jemmy Botton genannt wurde (und in Jim Knopf eine deutsche Kopie hat) und von einem Perlmuttknopf, der am Grund des Pazifiks gefunden wurde und von der jüngeren Geschichte Chiles erzählt. Man sitzt im Kino, schaut in die einzigartige Natur, erkennt Zusammenhänge, lauscht den Gedanken des Filmemachers und den Klängen von Patagoniens Sprache, des Wassers: und weint!
Es beginnt wie eine ungewöhnlich poetisch-suggestive Naturdokumentation. Es dreht sich um Quartzblöcke, Sterne und den Ozean, der Chile umgibt. Aber schnell wird klar, Patricio Guzmán geht es um mehr. Um die Geschichte Chiles, eine schmerzvolle Erfahrung aus Kolonialismus und Barbarei und um Humanismus und Aufklärung. Aber Guzman berichtet zunächst von der Entfremdung zwischen den Menschen und dem Wasser. Chilenen waren keine Seefahrer. Sie lebten nie mit dem Ozean. Nur die indianischen Ureinwohner Patagoniens hatten diese symbiotische Beziehung zum Wasser und sie wurden bereits im späten 19.Jahrhundert fast vollständig und ungeheuer brutal ausgerottet.
Guzmán findet einen zweiten Perlmuttknopf. Etwa 1400 Menschen wurden lebendig oder bereits ermordet mit Hubschraubern über dem Meer abgeworfen. Der Ozean wurde so zu einem riesigen Grab. Man beschwerte die Opfer mit Schienenstücken und genau diese verrosteten Schienen finden sich bis heute im Meer. Menschliche Überreste finden sich dann nur noch in Form eines Perlmuttknopfes. Und so wird diese faszinierende und vielschichtige, filmische Reflexion zu einer Mischung aus nachdenklicher Etüde über das Verhältnis zwischen dem Menschen und der Natur und einer beharrlicher Erinnerung, die Schrecken der Barbarei nicht zu vergessen.
Heute, am 09.12.2015, am Tag der Premiere, ertranken wieder fünf Kinder – vor der europäischen Mauer – im Mittelmeer.