Strategien und Ästhetiken der Darstellung nachhaltiger Entwicklung im neueren Dokumentarfilm
Von Thomas Klein
Seit etwas mehr als zehn Jahren ist der Begriff Nachhaltigkeit – in seiner Bedeutung als Leitbild für die zukünftige Entwicklung des Menschen – einer breiten Öffentlichkeit bekannt. In dieser Zeitspanne ist zugleich ein enormer Anstieg von publikumswirksamen Dokumentarfilmen zu verzeichnen, die sich mit Themen, Problemfeldern, Phänomenen nachhaltiger Entwicklung befassen. Vor allem geht es um Fragen der Globalisierung, der Ernährung, der Energie, des Klimawandels oder der Wasserversorgung. Einigen dieser Filme gelingt es, sich nachhaltig in die öffentliche Diskussion einzuschalten oder diese sogar zu prägen. Regisseure werden zu Akteuren der Nachhaltigkeit, die mit mit ihren Anliegen mitunter eine enorme Medienpräsenz erreichen.
Signifikant für diese Filme ist ein bestimmter Umgang mit Darstellungskonventionen des Dokumentarfilms bezüglich des Anspruchs auf Authentizität. Wenn Dokumentarfilme prinzipiell einen hohen Grad an Authentizität aufweisen, so legen eine ganze Reihe von Filmen den Verdacht nahe, einen dezidierten Anspruch auf ‚Wahrheit‘ zu erheben. Darauf verweisen bereits Titel wie An Inconvenient Truth (2006) oder Flow: For Love of Water (2008). Die Filme sind in vielen Fällen argumentativ und ästhetisch so strukturiert, dass sie eine ‚Wahrheit‘ formulieren, die gegenüber einer anderen öffentlichen (und falschen) Wahrheit zum Thema Nachhaltigkeit eine höhere Glaubwürdigkeit beansprucht. Die Darstellungsmittel vieler dieser Film sind um ihr Anliegen zentriert: Glaubwürdigkeit erzeugen, um die Zuschauerschaft zu überzeugen. Oft formulieren sie eine Gefahr, eine Bedrohung, wenn der Mensch nicht mit dem richtigen Bewusstsein mit seinen Ressourcen umgeht. Zugleich zeigen sie ein alternatives und nachhaltiges Handeln auf, wie es im Titel Taste the Waste (2011) formuliert wird.
Von der Frage ausgehend, welche Bedeutung diesen Dokumentarfilmen im Diskurs der Rolle der Massenmedien für das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung zukommt, sollen im folgenden wesentliche Darstellungskonventionen der Filme, Strategien zur Generierung von Glaubwürdigkeit und damit einhergehende Ambivalenzen sowie auffallende ästhetische Mittel vorgestellt und diskutiert werden. Abschließend soll ihre Reichweite in die gesellschaftliche und politische Realität in knappen Fallstudien skizziert und in den Kontext der Frage danach gestellt werden, wie es mit den Mitteln des Dokumentarfilms möglich ist, zu einem Umdenken im Sinne einer großen Transformation beizutragen.
Der Dokumentarfilm als Agent der audiovisuellen Nachhaltigkeitsthematisierung
In der deutschen Bildungspolitik nehmen Dokumentarfilme zu Nachhaltigkeitsthemen einen hohen Stellenwert ein. Die Bundeszentrale für politische Bildung bringt regelmäßig Hefte zu Filmen heraus, worunter sich auch Dokumentarfilme befinden, die sich mit Themen nachhaltiger Entwicklung beschäftigen (z.B. We Feed the World, Taste the Waste). Auch die Filmverleihe veröffentlichen filmpädagogische Begleitmaterialen für die Schule (z.B. Senator Film zu More than Honey). Seit 2005 gibt es Vision Kino und die SchulKinoWochen zur „Förderung der Film- und Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen“. Im Wissenschaftsjahr 2012 „Zukunftsprojekt Erde“ zeigte Vision Kino ein spezielles Filmprogramm zu Themen nachhaltiger Entwicklung. Das Programm wurde vor allem von Dokumentarfilmen bestimmt. Wenn Nachhaltigkeitsinitiativen und -institutionen das Medium Film in ihr Informationsangebot aufnehmen, sind es vor allem Dokumentarfilme, die aufgeführt werden. Auf der Webseite ‚Lexikon der Nachhaltigkeit‘, die von der Aachener Stiftung Kathy Beys erstellt wurde, findet sich eine Rubrik ‚Filme‘, die einige wenige Filme zum Thema kurz vorstellt. Das Schweizer Webseiten-Portal Filmefuerdieerde, das von der UNESCO als Bildungs-Initiative ausgezeichnet wurde, verwendet Dokumentarfilme, um „zum Erhalt der Integrität des Ökosystems der Erde beizutragen“.
In einem filmwissenschaftlichen Rahmen werden Nachhaltigkeitsfilme in den letzten Jahren im Kontext des Begriffs Ecocinema behandelt.
Ecocinema
Ecocinema „[…] offers audiences a depiction of the natural world within a cinematic experience that models patience and mindfulness – qualities of consciousness crucial for a deep appreciation of and an ongoing commitment to the natural environment“ (MacDonald 2013; siehe auch Rust et al. 2013; Kääpä et al. 2013; Schoonover 2013). Wertschätzung für die Umwelt und Engagement, zu ihrer Erhaltung beizutragen, sind demzufolge die letztlichen Ziele eines Kinos, zu dem auch Katastrophenfilme wie Roland Emmerichs The Day After Tomorrow (2004) gezählt werden – Filme, in denen die negativen Folgen des Klimawandels als dystopisches fiktives, mehr oder weniger auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhendes Spektakel inszeniert werden (Ähnlich funktionieren postapokalyptische Spielfilme, die von Konflikten infolge bestimmter Klimakatastrophen-Szenarien erzählen, wie Mad Max II: The Road Warrior, 1981 oder Waterworld, 1995). Katastrophenfilme im Kontext des Ecocinema zeigen die Versäumnisse des Menschen, etwa den Klimawandel zu verhindern, und wie diese auf ihn zurückwirken.
Die unter der Bezeichnung Ecocinema subsumierbaren Dokumentarfilme, um die es hier gehen soll, stellen meist Risiken von Zivilisation, Konsum, Globalisierung und Neoliberalismus dar, die der Mensch nicht in den Griff bekommt. Dazu zählen etwa globale und lokale Müll-Probleme, die in einer ganzen Reihe von Filmen behandelt werden. In gewisser Weise können auch diese Werke als Katastrophenfilme bezeichnet werden: „[These films] forecast an impending environmental catastrophe of trash, a future global disaster with its roots in humanity’s current unwillingness to acknowledge waste as a problem“ (Schoonover 2013, zu den Filmen zählen The 11th Hour (2007) Crude (2009) und Trashed (2012)). Die Widerwilligkeit etwas als Problem zu betrachten, ist auch in Dokumentarfilmen zu anderen Handlungsfeldern der nachhaltigen Entwicklung anzutreffen. Ferner wird dem Zuschauer die Ignoranz der Industrie und der Geschäftswelt vorgeführt, etwas zu ändern. Es sind Filme, die anklagen und warnen, die versuchen zu überzeugen und zu einem Wandel aufzurufen.
Davon ausgehend soll es nun darum gehen, auf welche Darstellungskonventionen Dokumentarfilme zurückgreifen, um diese Aussagen zu treffen, welche audiovisuellen Mittel ihnen zur Verfügung stehen, um allgemein Themenfelder und gesellschaftliche Problembereiche nachhaltiger Entwicklung in Szene zu setzen.
Schaubilder
Dokumentarfilme zu Nachhaltigkeitsthemen operieren häufig mit Schaubildern, Tabellen und Grafiken, wenn ihnen eine Evidenz notwendig machende Beweisführung inhärent ist. So werden etwa Zahlen, die der vom Film formulierten ‚Wahrheit‘ entsprechen, den Zahlen entgegengesetzt, die einem populären Wissen bzw. bis dato publik gemachter Daten, die die öffentliche Meinung lenken, zuwiderlaufen.
Das bekannteste Beispiel für die Verwendung von Schaubildern sind die Powerpoint-Präsentationen Al Gores in An Inconvenient Truth. Vor allem eine Einstellung ist bekannt geworden, in der sich Al Gore körperlich zu einer Wachstumskurve der erdgeschichtlichen Entwicklung, dem natürlichem Zyklus, der CO2-Konzentration in Bezug setzt (Abb.). Der aktuelle hohe Stand, der in erster Linie menschengemacht sei, wird dadurch in seiner Wirkung auf den Zuschauer verstärkt, dass Al Gore auf einer Hebebühne direkt neben der Wachstumskurve stehend mehrere Meter in die Höhe fährt, bis er am oberen Ende der Grafik anlangt. Dadurch wird der Abstraktionsgrad des Schaubilds reduziert und der unmittelbare Bezug dessen, was das Schaubild zeigt, zum Menschen dargestellt. Die Wirkung, die sich dadurch einstellt, ist auch emotionaler Art.
In Cowspiracy (2014) wird beispielsweise die Erzeugung von Treibhausgasen durch Transport (CO2 durch Autos, Flugzeuge, Schiffe etc.) der Erzeugung von Treibhausgasen durch Rinderzucht (Methan) entgegengesetzt. Dabei wird in Kombination mit der Kommentarstimme die Absurdität akzentuiert, wenn etwa die Menge an Wasser, die die Herstellung eines Hamburgers verbraucht, angegeben wird. Zusätzlich wird mit einer Animation, ebenfalls eine im Nachhaltigkeits-Dokumentarfilm häufig eingesetzte Form, veranschaulicht, um wie viel Wasser es sich handelt, indem die Figur eines Mannes mit einem Wasserschlauch im Garten gezeigt wird, die die entsprechende Menge Wasser in ein Plantschbecken füllt und dabei den Garten und die unmittelbare Umgebung unter Wasser setzt.
Emotionalisierende Bilder
Audiovisuelle Medienangebote können die unterschiedlichsten emotionalen Wirkungen auslösen (siehe u.a. Bartsch/Eder/Fahlenbrach 2007; Brütsch et al. 2005). Dabei ist zu berücksichtigen, dass Spielfilme und Dokumentarfilme in ihrer Gestaltung von Emotionen Gemeinsamkeiten aber auch signifikante Unterschied aufweisen, etwa was Empathie-Angebote betrifft (Brinckmann 2007). Ein wesentlicher Unterschied besteht, so Brinckmann, darin, dass Zuschauer im Spielfilm Empathie mit Figuren empfinden, im Dokumentarfilm hingegen mit realen Personen oder auch Tieren. Für die hier zu behandelnden Filme ist eine emotionale Wirkung von enormer Bedeutung. In Filmen zum Klimawandel etwa spielt es eine wesentliche Rolle zu zeigen, dass Lebewesen (ob Mensch oder Tier) unter der globalen Erwärmung leiden. Ein stereotypes Bild hierzu wäre etwa der Eisbär auf einer Eisscholle. Derartige Darstellungskonventionen versuchen die meisten Nachhaltigkeits-Filme aber eher zu vermeiden.
Bleiben wir beim Verschwinden des arktischen Eises. In seinem Film Chasing Ice (2012) dokumentiert Jeff Orlowski die Arbeit des Fotografen James Balog, der über mehrere Jahre hinweg im Rahmen des Projekts Extreme Ice Survey (EIS) die Gletscher in der Arktis beobachtet und fotografiert hat. Das Kalben der Gletscher, mit speziellen Kameras in Zeitraffer gefilmt, wirkt beklemmend, fast wie das Sterben von Lebewesen. Oft wurde in Kritiken zum Film darauf eingegangen, wie verstörend und zugleich schön die Bilder seien (So etwa in Susan Vahabzadehs Kritik in der Süddeutschen Zeitung vom 9.11.13: „Die Bilder sind atemberaubend, irgendwie natürlich wunderschön – und beklemmend“).
Mit schockierenden Bildern vom grausamen Umgang mit Tieren operiert Shaun Monson in Earthlings (2005). Zu sehen sind Bilder, die zornig machen, Bilder, die dazu führen können, menschliches Verhalten zu verachten. Auf schockierende Bilder von mit Müll und Tierkadavern überhäuften Landschaften und von Kindern, die darin spielen, greift Candida Brady in Trashed (2012) zurück. Solche Bilder erzeugen Wut und Empörung, wie so etwas zugelassen werden kann. Emotionalisieren können Bilder auch dadurch, dass sie in Bezug gesetzt werden zu anderen Bildern aus dem Archiv der Menschheitsgeschichte. In PlanetRe:think sieht man zu Beginn Menschen in Indien, die Metalle aus dem Ganges fischen (Abb.). Es entsteht die Assoziation mit Bildern aus der Goldgräberzeit. Überhaupt werden oft Bilder gesucht, die zeigen, dass in unserer Gegenwart Menschen durch nicht-nachhaltige Strukturen dazu gezwungen werden, unter Bedingungen zu arbeiten und zu leben, die dem der Moderne inhärenten Fortschrittsglauben zuwiderlaufen. Dazu zählen Bilder, die belegen sollen, dass menschenunwürdige Arbeit existiert, die aus dem rücksichtslosen Raubbau an der Natur und dem Ausnutzen der prekären Situation von Menschen resultiert. In Das Salz der Erde (2014) von Wim Wenders werden Bilder des Fotografen Sabastião Salgado gezeigt, auf denen Goldschürfer in der brasilianischen Goldmiene Serra Pelada zu sehen sind, deren Arbeitsweise wie aus einer anderen, vormodernen Zeit wirken sollen und diese Wirkung auch nicht verfehlen.
Spektakuläre Bilder
Spektakuläre Bilder sind häufig das Ergebnis des Einsatzes hochentwickelter Kameratechnik. Markus Imhoof zeigt in More than Honey (2012) Aufnahmen von Bienen im Flug, die wie Trickaufnahmen wirken (Abb.). Ein Zuschauer, der nicht mit der aktuellen Kameratechnik vertraut ist, kann den Bildern nur bedingt Authentizität zuweisen, da für ihn nicht zu erkennen ist, wie die Bilder zustande gekommen sind. Ebenfalls in diesen Zusammenhang gehören die Bilder, die durch neue Kameratechniken entstehen. Filme wie Die Nordsee von oben (2011) und Die Ostsee von oben (2013) werben mit bislang nie gesehenen Luftbildern, die mit der Helikopterkamera Cineflex gedreht wurden. Die Kameraufnahmen ästhetisieren Landschaften, erlauben eine Perspektive, die ohne diese Technik nicht möglich wäre. Auch wenn diese Filme Handlungsfelder der Nachhaltigkeit nur am Rande berühren, werben sie nachdrücklich für die Erhaltung von Kultur- und Naturräumen. In Chasing Ice wurde mit bis dahin nicht gebräuchlichen Zeitrafferaufnahmen gearbeitet, um das Kalben des Eises für den Zuschauer audiovisuell erfahrbar zu machen. Die technische Wissen des Filmemachers bzw. des Journalisten, dessen Arbeit der Film dokumentiert, steigert die Glaubwürdigkeit des Dargestellten und der Darstellung. In Watermark (2013) sind es die Aufnahmen des kanadischen Fotografen Edward Burtynsky, der mit Jennifer Baichwal auch Regie führte, die spektakuläre Perspektiven auf zum Element Wasser in Relation stehende Landschaften werfen (Auf seiner Webseite schreibt er: „My hope is that these pictures will stimulate a process of thinking about something essential to our survival; something we often take for granted—until it’s gone.”).
Glaubwürdigkeit
Die Authentizität des Dargestellten entscheidet darüber, ob die Filme glaubwürdig sind und in die Öffentlichkeit wirken. Soll der jeweilige Film einen Einfluss auf die Politik oder auf das Konsumentenverhalten der Zuschauer haben, so sollte er hinsichtlich seiner Authentizität nach Möglichkeit nicht angreifbar sein. Angegriffen wurde jedoch eine ganze Reihe von Filmen, und zwar vorzugsweise von Firmen, deren Unternehmenspraxis als problematisch dargestellt wurde. Das bedeutet aber auch, dass der Rezipient nicht nur im Moment der Kino-Situation von der Authentizität des Dargestellten zu überzeugen ist, sondern auch darüber hinaus – gesetzt den Fall, dass sich der Rezipient auch noch mit dem Film beschäftigt, nachdem er ihn im Kino gesehen hat.
Bekannt geworden und Wellen geschlagen haben Bilder in Gasland (2010). Die Einblendung brennenden Wasser aus dem Wasserhahn eines privaten Haushalts, dient dem Filmemacher Josh Fox als Beweis dafür, dass das Fracking brennbare Gase im Grundwasser hinterlassen habe (Abb.). Als Zuschauer reagiert man überrascht, fast wie bei einem Zaubertrick, nur dass es sich hier gerade nicht um einen Trick handeln soll, sondern um eine traurige Wahrheit. Der auffällig subjektive Kommentar des Filmemachers, die wackelige Kamera, die Bilder von brennendem Wasser aus dem Wasserhahn von Betroffenen, deren Verzweiflung: All dies erzeugt zunächst den Eindruck großer Glaubwürdigkeit für die These des Films, dass beim Fracking von nachhaltiger Energiegewinnung nicht die Rede sein kann.
Doch verhält es sich wirklich so? One Motherʼs Journey to Find the Truth lautet der Slogan auf dem Plakat der 34-minütigen Doku Truthland, die die Independent Petroleum Association of America 2012 veröffentlichte. Aus der Sicht einer Frau, die eine der Betroffenen aus Gasland sein könnte, soll der Zuschauer davon überzeugt werden, dass Gasland das Fracking nicht wahrheitsgetreu dargestellt habe. Josh Fox habe in seinem Film verschwiegen, dass Bäche nicht wegen des Frackings sprudeln, sondern weil es sich um eine sogenannte ‚burning spring‘ handele, deren Wasser aus natürlichen Gründen gashaltig und daher entflammbar ist. In FrackNation (2012), den die irischen Dokumentarfilmer Phelim McAleer und Ann McElhinney mittels Crowdfunding auf der Internet-Plattform Kickstarter finanzierten und Anfang 2013 ins Kino brachten, bietet sich ebenfalls ein anderes Bild als in Gasland. Nur wenige Monate nach FrackNation brachte Josh Fox den zweiten Teil Gasland – Part II heraus. Dafür wurde FrackNation am 10. Februar 2014 vor dem Europäischen Parlament gezeigt. Die Auswirkungen erleben wir aktuell: Fracking ist hierzulande wieder zu einer Option der Energiegewinnung geworden.
Gerade in diesem Fall erinnert die Aufeinanderfolge von Filmen, die neue Fakten auftischen, einer Beweisführung, wie sie vor Gericht üblich ist: Die Anwälte der gegnerischen Parteien liefern jeweils ‚Beweise‘ für ihre Version der Wahrheit und versuchen, die Argumente der anderen Seite zu entkräften. Die Zuschauer werden damit also neuerdings regelrecht zu Geschworenen, die über den Wahrheitsgehalt von Aussagen und die Glaubwürdigkeit und Plausibilität von Beweisen und Indizien zu urteilen haben.
Ein weiteres Beispiel ist Water Makes Money (2010) von den Hamburger Filmemachern Leslie Franke und Herdolor Lorenz, in dem es um Fälle von Public Private Partnership (PPP) im Bereich der Wasserversorgung geht. Der im Film kritisierte französische Konzern Viola hatte in Paris Klage wegen „Verleumdung“ eingereicht. Es ging vor allem darum, dass im Film von Korruption die Rede ist. Der Klage wurde nicht stattgegeben. Der Film wurde von ARTE am 22.03.2011 gezeigt und vor der Ausstrahlung genauestens überprüft. Durch den Rechtsstreit mit Viola und die umfassende Kinopräsenz des Films in Berlin wurde das Thema des Films in der Öffentlichkeit bekannter und hatte Einfluss auf die Wasserversorgungspolitik in Berlin, wo RWE und Veolia eines der größten PPP-Projekte Europas lanciert hatten. Ein erfolgreiches Volksbegehren, das durch den Film mit ausgelöst wurde, führte dazu, dass die geheim gehaltenen Verträge mit Viola offen gelegt werden mussten (Weitere Informationen zu der Debatte, die Water Makes Money ausgelöst hat, finden sich hier und hier).
Fazit
Es wurde, so denke ich, deutlich, dass Dokumentarfilme zu Nachhaltigkeitsthemen in ihren jeweiligen Formen über den spezifischen Erfahrungsraum Kino hinaus in die Gesellschaft hineinwirken können. Bezüglich der Distribution fällt auf, dass viele der genannten Filme spezifische Filmfestivals avisieren. So erhielt Taste the Waste den Dokumentarfilmpreis beim 37. Ekofilm International Film Festival on the Environment and Natural and Cultural Heritage in der Tschechischen Republik und planet Re: think wurde beim Environmental Film Festival of Accra (Ghana) gezeigt (Weitere Festivals dieser Art). Mit entsprechenden Festivalteilnahmen und -preisen wird geworben ebenso wie mit einem Prädikat durch die Deutsche Film- und Medienbewertung. Andere Filme und Filmgruppen werben zwar auch mit Festivalpreisen (im Vorspann, auf dem Plakat), doch ist es mehr der Bekanntheitsgrad des Festivals (z.B. Cannes, Berlinale) oder dessen spezifisches Image (Sundance), das interessiert. Environmental Festivals stehen unter einem konkreten Motto, das Aussagen zu moralischen und ethischen Positionen der dort laufenden Filme zulässt.
Die Rezeption von Filmen im Allgemeinen ist schon lange nicht mehr nur auf das Kino, auf das Fernsehen oder die DVD/Blu-ray beschränkt. Im Zuge des Web 2.0 können Filme auf Streaming-Seiten rezipiert werden oder sie befinden sich sogar auf YouTube. Wichtig für die hier behandelten Filme ist, dass sofern sie darauf abzielen, von möglichst vielen Zuschauern gesehen zu werden (was im Sinne der Nachhaltigkeitskommunikation sinnvoll wäre), es nicht scheuen, in guter Qualität auch auf YouTube online zu stehen.
Das Internet und vor allem YouTube fungiert aber auch als Plattform, um den Gegenstand der Filme bzw. Elemente davon in einem größeren Kontext rezipieren und reflektieren zu können. So kann die Kritik des Films Water Makes Money an dem französischen Wasser-Konzern Veolia durch die Aufzeichnung einer zunächst live gestreamten Konferenz vom 8. Februar 2014 reflektiert und das Wissen über das Thema erweitert werden (Interesanterweise fand vom 29. – 30. Mai 2014 eine Konferenz des Veolia-Instituts zum Thema „Ecosystems, Economy and Society: How Large-Scale Restoration Can Stimulate Sustainable Development“ statt). Oder die Glaubwürdigkeit von Filmen wird durch andere Informations-Veranstaltungen erhöht, die auf YouTube online stehen (So findet sich ein Beitrag auf YouTube, der eine „Green at Google“-Veranstaltung vom 16. Januar 2013 dokumentiert, in der Jeff Orlowski über seinen Film Chasing Ice einen Vortrag hielt).
Das Social Web und andere Medien der digitalen Kultur wie das Videospiel bedingen weitere Formen der Inszenierung von Nachhaltigkeit. Davon soll nun abschließend die Rede sein.
Zentrale Eigenschaften des Social Web entsprechen dem, was als „Grundsätze einer Kommunikation der Nachhaltigkeit“ (Borner 2014) bezeichnet wird: Partizipation, Interaktivität und Gestaltungskompetenz. Über die Kritik an Praktiken von Konzernen, die einer nachhaltigen Entwicklung zuwiderlaufen, der Erzeugung von Glaubwürdigkeit für die Sensibilisierung des Publikums für bestimmte Themen von Handlungsfeldern nachhaltiger Entwicklung und die Emotionalisierung des Publikums durch entsprechende Bilder hinweg, können Formen des Dokumentarischen oder auch Mischformen, die etwa mit Scripted Reality- und Reenactment-Elementen arbeiten, auf eine partizipative Einbindung des Zuschauers hinwirken. Eine Möglichkeit zeigt das von ARTE gesendete Doku-Game Fort McMoney auf. Darin geht es um Fort McMurray im kanadischen Alberta, wo sich die sogenannten Athabasca Oil Sands, auch Athabasca Tar Sands genannt, befinden. Es sind mit die größten Ölsand-Vorkommen der Welt. In drei Folgen kann der Spieler die Stadt erkunden, mit lokalen Personen sprechen und die Geschichte des Ortes recherchieren. Mit dem daraus generierten Wissen wird dem Rezipienten spielerisch und partizipativ die Möglichkeit der zukunftsorientierten Mitgestaltung der Stadt ermöglicht. Es geht also um die Aneignung von Gestaltungskompetenz. Der Spieler hat u.a. wirtschaftliche Vorteile und Nachteile für die lokalen Ökosysteme gegeneinander abzuwägen.
Ein weiteres Beispiel nutzt die Kommunikationsstruktur von Facebook, ist aber nicht interaktiv. Der Kurzfilm Earthbook spielt in einem fiktiven sozialen Netzwerk im Internet und zeigt Kommunikationsvorgänge des User-Profils der Erde. Der Film ist im Screencast-Verfahren gedreht. Dabei handelt es sich um digitale Filme, die das Geschehen auf Computerbildschirmen wiedergeben und in der Regel auditiv kommentiert werden. Besonders verbreitet sind sie in Form von Let’s Play-Videos. Die Kommentarebene ist nicht zwingend notwendig, zeigt Earthbook. Der Film zeigt außerdem, dass die Möglichkeiten audiovisueller Darstellung mit neuen Aufnahmeverfahren und damit neuen medialen Technologien auch neue Horizonte des Einsatzes dokumentarischer und hybrider Formate für Medienschaffende der Nachhaltigkeitskommunikation bietet.
Literatur und Filme
Thomas Klein (KMGNE)
Thomas Klein studierte Theaterwissenschaft, Filmwissenschaft, Germanistik und Pädagogik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, wo er 2004 promovierte. Von 2001 bis 2008 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Filmwissenschaft/Mediendramaturgie der Universität Mainz. Von 2010-2013 leitete er ein DFG-Projekt über den globalen Western (2015, Bertz+Fischer). 2014 habilitierte er am IMK der Universität Hamburg im Fach Medienwissenschaft. 2014 absolvierte er die Internationale Sommeruniversität des CCCLab (Climate Culture Communications Lab). Sein besonderes Interesse gilt medialen Dramaturgien, vom Film bis zum Computerspiel, dem seriellen Erzählen und transmedialen Formen in Theorie und Praxis. Zusammen mit dem KMGNE entwickelt er eine transmediale Webserie zum Thema Nachhaltigkeitskommunikation.