Nachhaltigkeitskommunikation als Gestaltungsaufgabe
Von Joachim Borner
Dieser Beitrag formuliert Überlegungen zu einer „Ästhetik der Nachhaltigkeit“; denn Medien transportieren nicht nur Nachhaltigkeitsthemen, sondern erfordern auch neue Muster einer nachhaltigen Kommunikation. Er stellt die industriell geprägte Gestalt der Mediengesellschaft in Frage und wirbt für eine neue Kultur der Beteiligung und eigenständigen Gestaltung – gerade durch Nutzung der Potenziale, welche die sozialen Onlinemedien bieten.
1 Warum eine Ästhetik der Nachhaltigkeit
Es ist an der Zeit, die dominante kulturelle Dimension der Medien erweitert zu diskutieren – hinsichtlich ihrer ästhetischen Funktionen, d.h. der (sinnlichen) Wahrnehmung oder Erkenntnis, der informativen, didaktischen, strukturierenden Funktion, als Zeichen, Symbol und Vermittler in Prozessen nachhaltiger Entwicklung und hinsichtlich ihrer eigenen Nachhaltigkeit. Warum? Nachhaltigkeit braucht Wahrnehmungserweiterung – nämlich im Zusammenwirken der Wissenschaften, Künste und Kommunikationssysteme der Gesellschaft. Nachhaltigkeit braucht also mehr, als nur die analytisch-modellierte, rationale Beschreibung von Nicht-Nachhaltigkeitshandeln oder nachhaltig gestalteten Wirtschafts- oder Konsumsystemen.
Dazu eine Geschichte: Über viele Jahre schon stellte das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC – Zwischenstaatlicher Ausschuss für Klimaänderung) den Klimawandel dar, beschrieb Folgen und Zeiträume der möglichen radikalen Klimaveränderungen für die Klimazonen der Erde, deren Ökosysteme und Folgen für die jeweils dort lebenden Menschen. Doch in der „Mitte der Gesellschaft“ kam das Thema nicht an. Erst als Nicolas Stern eine ökonomische Übersetzung dieser ökologischen Folgen in den Kontext von Handeln (Kosten für Klimaschutzmaßnahmen) und Nichthandeln (Anpassungskosten) brachte (Stern 2007) und Al Gore die Übersetzung ins Alltagspolitische vornahm, kam „Klimawandel“ in die öffentliche Diskussion und auf die Tagesordnung von Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft (Gore 2006).
Über diese zwei Sprachen (über die spezifischen binären Codes des ökonomischen und des politischen Systems der globalisierten Welt) sowie über das multimediale „Aufschreibesystem“ (Kittler 1985) von bildlich-grafischer Präsentation, Videofilm, Radio, Fernsehen und Internet und schließlich über die gesellschaftlichen „tagging“-Systeme – wie „Oscar-“ und „Nobelpreisverleihung“ – transferierte sich das Klimathema in ein alltagskulturelles Diskursthema.
Jetzt, wo der weltweite Transformationsprozess infolge des Klimawandels nicht mehr nur die „individuelle“ Intention von Klimawissenschaftlern und IPCC ist, sondern auf dem Eingang in alle Medien beruht, also mit Text, Bild, Ton, Symbol in allen Sprachen möglich ist, scheint er als politisches, wirtschaftliches und kulturelles Handlungsfeld akzeptiert zu sein.
Und doch, als es in Kopenhagen im Dezember 2009 zum Schwur kommen sollte, patzten die Entscheider (einschließlich der beteiligten NGOs). Was war geschehen? Entscheidende Übersetzungen waren doch geleistet und verbreitet worden.
Offensichtlich waren die Entscheider allesamt „Zukunftsatheisten“ (Sloterdijk 2009), konnten und wollten in letzter Konsequenz „nicht das glauben“ – so Sloterdijk – was sie längst wussten. „Glauben und Wissen klaffen im Hinblick auf unser globales Geomanagement völlig auseinander“ (ebenda).
Offensichtlich reicht bei solch komplexen und radikalen Transformationen, wie sie die Klimafolgen in der globalen Gesellschaft und in den unterschiedlichen Kulturen auslösen, die Übersetzung in die beiden bedeutenden Interessenlogiken des politischen und des (sozio)ökonomischen Systems nicht aus. Möglicherweise bedarf es eines zu dem heutigen Klimawissen passenden „Common Sense“ – ein Navigationssystem oder eine Art ethisches Spielregelwerk, mit dem sich die verschiedenen Teile der Gesellschaft neu verständigen und aus dem sich ein gemeinsamer Nenner – ein klimakultureller Gemeinsinn – ergibt.
Vielleicht braucht es für dafür eine neue Aufklärung (Blom 2011). Sicherlich braucht es aber Symbole und Metaphern, die die Klimakultur, für die der „Common Sense“ steht, im ästhetischen Selbstverständnis der verschiedenen Kulturen und für ein zukünftiges ästhetisches Selbstverständnis der Weltgemeinschaft habitualisieren. Und es braucht identitätsstiftende Geschichten über die Klimakultur, Geschichten, die chancenreich gegen die Erfolgsgeschichte der kapitalistischen Globalisierung antreten können, weil sie von den gestaltbaren Alternativen berichten, in denen vermisste Lebensweisen, Zeit, Selbstwirksamkeit, Arbeit wieder oder neu gewonnen werden.
„Die treffende Metapher produziert einen Überschuss zugunsten der Anschauung – und genau an der Überzeugung durch Anschauung fehlt es heute auf der ganzen Linie. (Es) wäre eine plausible Metapher hilfreich, weil sie anregen würde, etwas mehr an das zu glauben, was wir wissen. Die Anschauung ist immer ein Stück gläubiger als der Verstand“ (Sloterdijk 2009).
Beides – Metaphern und Geschichten – sind Helfer der Kommunikation bei der kollaborativen Suche nach dieser vermissten Anschauung. Sie fungieren als resonanzfähige, legitimationsfähige Bilder von Zukunft, die immer und immer wieder reproduziert werden und daraus handlungsstrukturierende Kraft entwickeln – wenn sie sich „natürlich“ in die Alltagskulturen, Selbstkonzepte, Lebensstile einschreiben (habitualisieren).
Das ist ein Spagat. Denn die Anschauungen und Leitbilder sollen auf den Deutungsmustern der Kultur der Moderne (des fossilen Zeitalters, des Wachstums, des technischen Fortschritts u.a.) aufsetzen, um sie abzulösen. Dem steht allerdings die „totale Ästhetisierung“ (Borner 2001, Greif 2011, Böhme 1995) der Gesellschaft entgegen. Was ist damit gemeint? Einmal bezeichnet sie die Zurichtung von (fast) allem durch den Menschen. Wie eine Folie hat der Mensch der Moderne die Kultur über die Natur gezogen. Kulturlandschaft oder Technosphäre sind zwei Begriffe dafür, dass uns die irdische Welt in Gestaltungen des Menschen vermittelt wird. Das Natürliche wird nur noch über die Kulturgestalten wahrgenommen, es (das Natürliche) und seine Reproduktion wird entfremdet. Mit Kulturgestalten ist der ganze technische und technisch gestaltete Überbau der Gesellschaft gemeint – die Infrastrukturen der Städte, der Industrie, des Konsums, die Produktivkräfte, die der Grund für den möglichen Wohlstand sind, die Forschung und die Forschungsapparaturen, die Energie- und Rohstoffsysteme und vor allem auch der „Aufschreibeapparat“. Dass diese Kulturgestalten, diese Formen das Ästhetische der Moderne (also die kulturspezifische Wahrnehmung von Entwicklung) sind, lässt sich nur dadurch erklären, dass sie Energie erzeugen, den Arbeitstag verkürzen, Mobilität ermöglichen, Einkommen vergrößern etc. – also Zwecke und Inhalte haben. Das meint der Satz: In der ästhetischen Gestalt emergiert der soziale Sinn, der ökonomische Zweck und das technische Mittel, so wie diese umgekehrt jene erst kodieren (vgl. Böhme 1995).
Die zweite Erscheinungsform der totalen Ästhetisierung treibt die Entfremdung auf die Spitze – es ist die Reduktion auf die Form –, ohne dass es noch einen Inhalt hat. Die Form – die Verpackung, das Werbeversprechen, die Talkshow usw. selbst ist der Inhalt. Die Geschichten und Metaphern der Nachhaltigkeits- und Klimakommunikation müssen nun Formen schaffen, die wieder Inhalt und Sinn beinhalten, die neue „Schönheiten“ von Landschaften, Infrastrukturen und „Aufschreibesystemen“ schaffen sowie resonanzfähige neue Selbstkonzepte und Leitbilder, die die Begrenztheit der analytischen Logiken – wie sie in den „Übersetzungen“ von Stern und Al Gore erscheinen – im hegelschen Sinn „aufheben“. Wie könnte das aussehen? Sie interpretieren die Konsequenzen der Klimafolgen ästhetisch, aus emotionaler, ethischer Sicht und fragen danach – im Sinne der Selbstwirksamkeit –, in welcher Klimakultur wir denn 2050 oder 2070 „gut leben“ wollen (und nicht in erster Linie nur müssen). Es scheint, dass wir ohne ästhetische Beschreibung eines von uns „entworfenen guten Lebens in der Zukunft“, ohne Verortung einer zu gestaltenden, von uns gewollten und erwünschten Klimakultur in den nächsten Generationen nicht die notwendigen Bezugspunkte finden werden, die heutigen Entscheidungen legitimieren können, und zwar zur Reduktion von Kohlendioxid, zur Energiewende und Konstruktion eines diversen Energiesystems erneuerbarer Energieträger, zur Bindung von Kohlendioxid, zur Anpassung der Städte, Landnutzungen, Küsten an Folgen des Klimawandels u.a.m..
Woran liegt es nun, dass wir uns wider besseren Wissens verhalten? Es liegt vor allem daran, dass wir von den Folgen und deren ästhetischer Gestalt – also der zugerichteten Bergbaulandschaft z.B. oder den Extremwettererscheinungen – her denken und gestalten; also epistemisch, “disziplinär” und instrumentell, statt lebensweltlich, heuristisch und prozessorientiert. Um beim Beispiel des Energiesystems zu bleiben: Die Energiewende in der ersten Denkweise führt dann vom stillgelegten Atomkraftwerk zu sehr großen Offshoreparks und Projekten wie DESERTEC, die in der Hand monopolistischer Konzerne sind. Die zweite prägt dagegen dezentrale ästhetische Figuren – energieautonome Kommunen mit Teilhabe der Bevölkerung. Welche Denkweise die richtige ist, ob wir beide brauchen etc. ist nicht eine Frage der Natur- und Ingenieurwissenschaften, sondern Ergebnis eines gesellschaftlichen Diskurs- und Aushandlungsprozesses, in dem entscheidend ist, wer in der öffentlichen Kommunikation die Deutungshoheit erlangt.
Ohne Ästhetisierung der Nachhaltigkeit, ohne ihre (auch symbolische) Formung in Gestalten der Stadt und der Landschaft, der technisch-ökonomischen Infrastruktur und der konsumtiven Welt lässt sich das Misstrauen, das Unverständnis, die begrenzte Vorstellungskraft gegenüber einem nachhaltigen Kulturmodell, einer Transformation nicht beheben. Das Bauhaus zog nach Dessau, um dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt, der dort in den Zwanzigern des vergangenen Jahrhunderts mit den Junkers-Betrieben und der chemischen Industrie vehement aufspielte, nahe zu sein: Seine funktionale Ästhetik wollte Gebrauchsgüter, die bislang nur von den Reichen genutzt werden konnten, allen zugänglich machen. Indem sie funktional gestaltet wurden, konnten sie kostenarm an Fließbändern hergestellt werden: Autos, Radios, Wohnungen etc.
Metaphorisch heißt das: Wenn das Mittelalter die Handmühle hatte, die industrielle Revolution für die Marktwirtschaft die Dampfmühle schuf, dann ist die Frage: Welche Mühle repräsentiert die technologische Basis, die Wirtschafts- und Arbeitsformen sowie die ökologischen Managementregeln der Nachhaltigkeit? Die direkte Antwort bedeutet dann: das Windrad, die Photovoltaik, die Solarthermie und die Biomasse bei Teilhabe der Bevölkerung.
2 Zugang eins
Friedrich Kittlers Konzeption der „Aufschreibesysteme“ hilft hier: Was in der Gesellschaft als Netz und System von Techniken, Institutionen, Spielregeln der Adressierung, Speicherung, Verarbeitung und Deliberation existiert, das – eben diese Kulturtechnik – entscheidet wesentlich darüber, wie, was und wohin die Gesellschaft kommuniziert und denkt.
Das hat zwei Pointen: Die erste besteht in unseren Zeiten in der produktiven Anerkennung der Medienpluralität. Das heißt, wenn Massenmedien nicht die systemischen Möglichkeiten haben, anderes als Triviales zu berichten, dann können und werden sich mit dem Internet Medien ausbilden, in denen Massen Zukunftsalternativen fordern, entwerfen und „modellieren“, abgleichen, verbreiten. Zudem ist, „was in der Epoche gedacht wird“ (Kittler, zitiert von Koldehoff, 2011), auch eine Metapher für Formen der Wissensvermehrungen, Neudeutungen der Welt, Zukunftsentwürfe. In der Epoche des Web 2.0 ist Medienpluralität, Interaktion und Diversität das Charakteristikum einer neuen Kommunikationskultur: Die klassische Moderne steuerte ihre Entwicklung epistemisch über massenmediale Kommunikation, Expertenhierarchie (domestizierte Intelligenz) und Wachstum.
In der reflexiven Moderne der Risikogesellschaft (Beck 1993) und der Transformation entwickelt sich jedoch die „Kontroverse“ zur Steuerungsmethode; als Methode der Aushandlung, als Methode des Prüfens der Effekte, als Methode des Suchens. Weil zunehmend und anerkanntermaßen Intelligenz (Erfahrungsträger mit Werten, Intentionen) verteilt auftritt, weil diese Diversität der Erfahrungsakteure gemeinsam und problemadäquat Handlungs- und Gestaltungswissen herstellt, weil diese Diversität die Kontroverse schafft, die erst durch die Selbstüberraschung in der Kommunikation zustande kommt – wird, wie es scheint, die Kontroverse zum Steuerungsprogramm der nächsten Gesellschaft, und zwar mit einem neuen Gesellschaftsvertrag – einem Gesellschaftsvertrag zur Klimakultur, zur großen Transformation, zur nachhaltigen Entwicklung (WBGU 2011).
Verblüffend ist, dass das Thematisieren einer Ästhetik der Nachhaltigkeit dreißig bis vierzig Jahre später beginnt als die Diskussion um Nachhaltige Entwicklung selbst.
- Erster Grund: Die politisch aufklärerische Tradition des Glaubens an die rationale Vernunft konzentriert sich auf die Macht des wissenschaftlich Faktischen. Umweltbildung selbst in Gestaltungsberufen drängt auf die Lösung aufgelisteter Umwelt-, Stadt-Land- und anderer Probleme, nicht aber auf Gestaltfragen, die sich aus dem philosophischen Blick Nachhaltiger Entwicklung – z.B. aus der Frage, was gutes Leben ist, was den Sinn guten Lebens ausmacht – ergeben.
- Zweiter Grund: Seit dem Entstehen der LOHAS-Bewegung geht die Sorge um, dass sich eine „Schule der Nachhaltigkeitsästhetik“ in die gegenwärtigen Strategien totaler Ästhetisierung integriert – so wie auf den Finanzmärkten CO2-Zertifikate beginnen, die Spekulationsbedürfnisse, die bislang durch „Derivate und Leerverkäufe“ bedient wurden, zu befriedigen.
3 Zugang zwei
Grundsätze einer Kommunikation der Nachhaltigkeit sind „Partizipation, Interaktivität, Gestaltungskompetenz, Reflexion und positive Handlungsoption“ (vgl. Bittencourt u.a. 2004). Darüber eröffnet sich für den Einzelnen die Möglichkeit, an den Entwürfen alternativer, gesellschaftlicher Zukünfte teilzunehmen, für deren Implementierung sich und andere zu motivieren, sich Verantwortung anzueignen und auf deren Deutungshoheit einzuwirken.
Diese Grundsätze kennzeichnen auch die aktuelle Form der Kommunikation, die sich als Web 2.0 global entwickelt und für alle gesellschaftlichen Bereiche rasant an Bedeutung gewinnt. Es liegt daher nahe zu prüfen, ob und wie die Themen und Inhalte von Nachhaltigkeit sowie die partizipative und kollaborative Gestaltung zukunftsfähiger gesellschaftlicher Zustände mit den Sozialen Medien des Web 2.0 handlungswirksam vermittelt werden können. Dabei steht das „ob“ angesichts der Bedeutung, die das Web 2.0 global und quer durch alle Bevölkerungsgruppen bereits gewonnen hat, immer weniger in Frage.
Um 50 Millionen Nutzer(innen) zu erreichen, benötigte das Massenmedium Fernsehen 13 Jahre; das Internet 4 Jahre, während allein das soziale Netzwerk facebook, eine der Web-2.0-Plattformen, in weniger als neun Monaten mehr als 100 Millionen Nutzer(innen) verzeichnete. Doch nicht nur die Zahlen, die aufzeigen, dass mit dem Web 2.0 eine große Zahl an Menschen in kurzer Zeit erreicht werden kann, sprechen dafür, es für die Kommunikation von Nachhaltigkeit zu nutzen – es sind auch die Verhaltensweisen im Umgang mit dem Medium Internet und die Kommunikationskultur der Menschen, die es nutzen und die auf diese Weise angesprochen werden. Denn die Nutzer(innen) des Web bilden nicht mehr einen reinen Empfängerpool, sondern sind eine aktive Community, die selbst Inhalte erstellt, diese teilt, das Medium Internet mitgestaltet und mittels Internet in reale gesellschaftliche Prozesse eingreift. Obgleich massenhaft genutzt, ist das Web kein Massenmedium, sondern ein Medium der Massen:
„Das World Wide Web scheint (…) mit der Internetkommunikation die Schwächen des anonymen und asymmetrischen Charakters der Massenkommunikation auszugleichen, indem es den Wiedereinzug interaktiver und deliberativer Elemente in einem unregulierten Austausch zwischen Partnern zulässt, die virtuell, aber auf gleicher Augenhöhe miteinander kommunizieren“ (Habermas 2008).
Mit dieser Einschätzung hat Jürgen Habermas die Kritik relativiert, die – nicht nur er – an den Massenmedien des 20. Jahrhunderts, insbesondere am Fernsehen, geübt hat, weil es die Öffentlichkeit in eine „Monokultur der Manipulation verwandelte“ (Schulze 2011). Für diese Sichtweise ist die Vorstellung leitend, dass Kommunikation vertikal und einseitig verläuft, von den Sendern hin zum empfangenden, aufmerksamen, aber primär konsumtiven Publikum (Maletzke 1963). Die Themen erreichen das Publikum nicht im direkten und beidseitigen Dialog, sondern vermittelt über Redaktionen, Journalisten, Medienvertreter, Meinungsmacher.
Für die Anwendungen des Web 2.0 hingegen ist eine horizontale Kommunikation in mehrere Richtungen signifikant, in deren Mittelpunkt die Nutzer(innen) stehen, die zugleich Empfänger und Sender, Konsument und Produzent sind. „Broadcast yourself“ (YouTube 2005) ist das treffende Motto der sozialen Onlinemedien. Sie basieren auf der Struktur sozialer Netzwerke und dem Verhaltensmodus der Partizipation, die beim Sharing – dem Teilen, Kommentieren, Bewerten – beginnt und bis hin zur Kollaboration, dem gemeinsamen Erarbeiten von Wissen und Inhalten, führen kann. Die Personen, die bisher nur Publikum waren (TPFKATA: „The People formerly known as the audience“ (Rosen 2006)), gestalten das Internet durch eigene Beiträge und ihre Vernetzung untereinander mit.
Jay Rosen (2006): “A highly centralized media system had connected people ‘up’ to big social agencies and centers of power but not ‘across’ to each other. Now the horizontal flow, citizen-to-citizen, is as real and consequential as the vertical one.” (Übersetzung J. B.: Ein hoch konzentriertes Mediensystem hatte die Leute „aufwärts“ verbunden zu den großen gesellschaftlichen Schaltstellen und Machtzentren, aber nicht „quer“ untereinander. Nun ist der horizontale Verlauf, Bürger-zu-Bürger, genau so wirklich und wichtig wie der vertikale.)
Das Web 2.0 ist seit etwa 2005 die spezifische Erscheinungs- oder Aufzeichnungsform des World-Wide-Web, und Tim O‘Reilly, der den Begriff des Web 2.0 maßgeblich prägte, hat dafür eine richtungsweisende Beschreibung geliefert (Tim O´Reilly 2005):
“Like many important concepts, Web 2.0 doesn’t have a hard boundary, but rather, a gravitational core. You can visualize Web 2.0 as a set of principles and practices that tie together a veritable solar system of sites that demonstrate some or all of those principles, at a varying distance from that core.”
Dieses Aufschreibesystem mit seinen vielfältigen, man könnte meinen unerschöpflichen Instrumenten, Techniken und Elementen entspricht Formen des „Entbergens“. „Erschließen, umformen, verteilen, umschalten sind Weisen des Entbergens“ (Heidegger, zitiert bei Hammel, 1996, S. 119 f.). Entbergen ist dabei eine Metapher für die Diversität von Optionen, die sich szenarisch für die Zukunft auftun, wie auch für die Formen, in denen sich Optionen entwickeln und erzählen lassen, wie auch für die Organisation der Implementierung in der gesellschaftlichen Agenda.
Gleich mehrere (populäre) Bezeichnungen versuchen die Besonderheit der horizontalen und mehrdirektionalen Kommunikationsstrukturen des Web 2.0 zu beschreiben:
Der Begriff „Social Media“ – Soziale Medien – hebt hervor, dass das Web 2.0 vorrangig nicht eine Technologie, sondern eine gesellschaftlich geprägte und an Personen gebundene kulturelle Form des Umgangs mit Medien ist.
„Crowdsourcing“ (Howe 2006) zielt darauf ab, dass die „Masse“ oder der „Schwarm“ durch die aktive Beteiligung der einzelnen ein Potential an Ressourcen umfasst, das sich im Web zur „Wisdom of Crowds“, zur Intelligenz des Schwarms entwickeln kann;
„Cloud“ (Wikipedia 2011) hingegen fasst beide Aspekte im Bild der „Wolke“ zusammen, das zugleich die Undurchschaubarkeit des Gesamtnetzes, wie seine Erreichbarkeit von jedem Ort und zu jeder Zeit beschreibt.
Eine Kommunikation der Nachhaltigkeit, die über das Web 2.0 verläuft, nimmt damit Teil an einem gesellschaftlichen Wandel von Öffentlichkeit und Kommunikation. Die „partizipatorische Wende“ in der Kommunikation bedeutet eine Ausdifferenzierung in „zahllose Andockmöglichkeiten für ebenso zahllose Interessen, Idiosynkrasien und Obsessionen“ (Schulze 2011, S. 38). Gerade für ein solch komplexes Themenfeld wie Nachhaltigkeit ermöglicht Web 2.0 einen offenen Zugang, der gleichermaßen Expertenwissen wie Erfahrungswissen als Ressource aufzugreifen und zu vernetzen vermag. Verständlichkeit der Inhalte auf unterschiedlichem Niveau, Berücksichtigung regionaler und kultureller Besonderheiten und Einbeziehung aktueller Ergebnisse aus Forschung und Wissenschaft werden durch die Nutzung der verschiedenen Plattformen – z.B. von facebook, YouTube über Blogs, Twitter bis Wikis – ermöglicht. Alle Interessierten können mit ihrem Wissensstand, ihren Kompetenzen und Erfahrungen an der Diskussion, Verbreitung und Gestaltung der Inhalte partizipieren. Experten agieren hierbei als Moderatoren, die Impulse geben, Lern- und Diskussionsprozesse anstoßen, ggf. auch korrigierend und ergänzend eingreifen. Jeder User trägt mit seinem Beitrag einen „Wert“ bei und je mehr das tun, umso besser, wie es Tim O’Reilly in seiner viel zitierten Definition von Web 2.0 beschrieben hat (O´Reilly 2004): „Jeder kennt irgendwas, aber das kann immer nur ein Bruchteil dessen sein, was es gibt; […] Autoritäten gibt es nicht – außer der Autorität der vielen anderen Einzelnen: der Autorität des Schwarms.“
Die Beiträge sind nicht auf finale Versionen angelegt, sondern als „re-edits“, als „perpetual Beta“ (ebenda), die kritisch reflektiert, beständig aktualisiert und weiter editiert werden können.
„Die digitale Öffentlichkeit trainiert den Einzelnen zum Selbstdenker, sie fordert seine Reflexivität heraus, sie übt ihn in kommunikativer Vernunft“ (Schulze 2011, S. 43). Experteninput und Alltagswissen müssen sich gleichermaßen im offenen Austausch und in der Kommunikation innerhalb der sozialen Netzwerke bewähren. Es hat sich „in der digitalen Öffentlichkeit eine Kritik der Kritik etabliert“ (ebenda S. 41), für die Authentizität und Transparenz der Aussagen entscheidende Kriterien bilden. Insofern kann von einer Demokratisierung in der Kommunikation gesprochen werden.
Der insgesamt „virale“ Verlauf der Kommunikationsprozesse im Web 2.0 schließt eine zentrale und hierarchische Kontrolle aus: Nur in begrenztem Umfang können einzelne Phasen, z.B. die Entscheidung, mit wem man sich vernetzt, wem man folgt oder wen man als „Freund“ akzeptiert, den Verlauf beeinflussen. Dieser Kontrollverlust birgt vor allem hinsichtlich des Missbrauchs persönlicher Daten und der Verletzung von Autorenrechten eine Gefahr. Für die Inhalte und ihre öffentlichkeitswirksame Vermittlung ähnelt „virale“ Kommunikation im Web 2.0 durchaus der guten alten „Mundpropaganda“, die das Engagement für eine Sache, die sie auch anderen bekannt und begreifbar machen will, voraussetzt und dabei persönliche Kontakte nutzt, aber mit dem Ziel, einen Prozess zu initiieren, der viele jenseits des persönlichen Umfelds erreicht. Entgegen des kritischen Vorbehalts, dass die persönliche Begegnung in der Welt des Web an Bedeutung verliert, zeigt sich ihre Relevanz gerade für eine Kommunikation, die nicht nur Nachhaltigkeit vermitteln, sondern selbst nachhaltig wirken will. „Alles, was man im virtuellen Raum tut, führt nur zum Ziel, wenn man sich auf etwas konzentriert, das außerhalb von einem selbst existiert, um mit ihm in Berührung zu kommen“ (Schulze 2011, S. 41).
Aufmerksamkeit, Verständnis von Zusammenhängen, Problembewusstsein und eine positive Handlungsorientierung entwickeln sich nachhaltig im Austausch mit anderen, der von der Online-Aktivität zum Offline-Handeln führt. Dieser „Sprung“ von „On“ zu „Off“ wird durch die Strukturen des Web 2.0 selbst unterstützt, indem sie Alltagserfahrung nicht nur als Ausgangspunkt für Kommunikation und Vernetzung einbeziehen, sondern auch wieder hierhin zurückführen können. „Flash Mobs“, der so genannte „Arabische Frühling“ und die „Occupy-Bewegung“ sind Beispiele, wie die sozialen Netzwerke des Webs zu Offline-Aktionen motivieren und diese nicht nur organisieren: Die Kommunikation im Web über die Inhalte hat eine reale Wirkung auf das Denken und Handeln im Alltag; aus ihr erwächst die Bereitschaft zur Aktion.
Zugang zu Wissen von überallher, gleichzeitiges Wahrnehmen von Dingen an unterschiedlichen Orten, gemeinsam zeitgleich über Distanzen hinweg handeln und sich gemeinsam Alternativen vorstellen und ausgestalten können, weil alle einen Zugang zu demselben Wissen haben – das ist das Reservoir für die Vernünftigen, um im Netz eine Art kollektive Intelligenz zu schaffen, die einmal die Geschichten erzählt, die zur Gestaltung des „Anthropozäns“ und der Klimakultur gebraucht werden, und die zum anderen Organisationsmuster schafft, mit denen die Einzelnen ihre Angelegenheiten ohne Verwaltung und über Grenzen hinweg selbst organisieren.
4 Fazit
Was hier beschrieben wird, lässt nicht den Schluss zu, dass das Web 2.0 ff. mit finaler Zwangsläufigkeit zu nachhaltig-partizipativer Kommunikation und gestaltender Kommunikation nachhaltiger Entwicklung führt. Es ist das Möglichkeits-Potential, das im Aufschreibesystem verborgen ist. Es steht allen – auch den Nachhaltigkeitsverweigerern und deren Möglichkeitssinn zur Verfügung.
Also haben die Promotoren des Gerechten, der Klimakultur und der Dauerhaftigkeit humanistischer Leitplanken die „Last des Internets“ zu schultern, nämlich Verantwortung zu übernehmen, Bericht zu erstatten, Trivialisierungen zu meiden, die Weisheit zu mehren (Greif 2011) und die Fähigkeit zu kultivieren, sich Alternativen vorstellen und gestalten zu wollen. Eine Kommunikation der Nachhaltigkeit, die über das Web 2.0 verläuft, nimmt damit Teil an einem gesellschaftlichen Wandel von Öffentlichkeit und Kommunikation. Die partizipatorische Wende in der Kommunikation bedeutet eine Ausdifferenzierung in „zahllose Andockmöglichkeiten für ebenso zahllose Interessen, Idiosynkrasien und Obsessionen“ (Schulze 2011, S. 38). Gerade für ein solch komplexes Themenfeld wie Nachhaltigkeit ermöglicht das Web 2.0 einen offenen Zugang, der gleichermaßen Expertenwissen wie Erfahrungswissen als Ressource aufzugreifen und zu vernetzen vermag und transdisziplinäre Wahrnehmungskulturen ausprägt.
Da für Web 2.0 kennzeichnend ist, dass es keine finale Version gibt, sondern durch die offenen Prozesse des „Re-editierens“ immer nur die „perpetual Beta“, die noch nicht abgeschlossene, für Teilen und Veränderung offene Version existiert, was nicht Mangel, sondern eine Qualität darstellt, ist es dieser Prozess, der die Ästhetik ausmacht.
Literatur
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Joachim Borner (KMGNE)
Dr. Joachim Borner ist wissenschaftlicher Direktor des KMGNE und Leiter des CCCLab (Climate Culture Communications Lab). Über dieses werden Internationale Sommeruniversitäten in Deutschland, Chile, Brasilien durchgeführt, die sich der Suche nach Ästhetiken, Narrationen sowie Medienformaten widmen, die der “großen Transformation”, der Klimakultur u.a. gerecht werden. Er studierte Ökonomie und Ökologie, baute an der Humboldtuniversität ein postgraduales Studium Umweltwissenschaften und Nachhaltigkeit auf, war Mitglied der Enquetekommission “Schutz des Menschen und der Umwelt” des Deutschen Bundestages, Professor für Nachhaltigkeitsmanagement und -kommunikation an der Universität Bolivariana (Chile), Gastprofessor bzw. Lehrbeauftragter an der TU-Berlin, an den Universitäten Wuppertal, de Lima, ARCIS und UAHC (Chile).