Nachhaltig spielen? Gestaltungskompetenz in und durch Electronic Games
Von Robert Baumgartner und Elisabeth Hollerweger
1. Vorüberlegungen
Verspräche man Nachhaltigkeitsakteuren „mächtige Werkzeuge, die zur Beteiligung anregen und harte Arbeit fördern [und] mehrere Dutzend, hundert, tausend oder Millionen Menschen gleichzeitig motivieren“ , sie könnten ihr Glück vermutlich kaum fassen. Denn im alltäglichen Kampf gegen Zieldiffusionen, Verantwortungszumutungen, irreführende Komplexitätsreduktionen, Übersättigungsreaktionen und Verhaltenslücken wird die Förderung von Nachhaltigkeitsbewusstsein und Gestaltungskompetenz zur immer schwierigeren Aufgabe. Doch wie fielen die Reaktionen aus, wenn offengelegt würde, dass mit den angekündigten Wundermitteln kommerziell erfolgreiche Electronic Games gemeint sind – also ebenjene Medien, von denen regelmäßig behauptet wird, sie würden ihre Konsumenten dumm, dick und gewalttätig machen und die insbesondere dann in den Fokus öffentlicher Debatten rücken, wenn es um Amokläufer oder frauenverachtende Rollenbilder geht? Die daraus notwendigerweise resultierende Frage, wie sich Computer-/ Videospiele mit einer Bildung für nachhaltige Entwicklung vereinbaren, geschweige denn für diese nutzen lassen, rückt im vorliegenden Beitrag in den Fokus der Betrachtung. Dies scheint nicht zuletzt deshalb interessant, weil Makrothemen einer nachhaltigen Entwicklung nicht mehr nur in pädagogisch ausgerichteten Serious Games aufbereitet, sondern inzwischen auch für renommierte Spieleentwickler zum Ausgangspunkt virtueller Realitätskonstruktionen werden. Dadurch lässt sich einerseits eine neue und voraussichtlich breitere Zielgruppe erschließen, andererseits aber auch der Horizont von Spielwelten entscheidend erweitern. Dementsprechend konstatiert DAEDALIC- Claas Paletta: „Uns treibt das Engagement, dass im Spieleuniversum auch Platz für Themen abseits von Alieninvasionen und Drachentöten sein muss. […] wir finden, dass der Klimawandel und die globalen Aufgaben, vor die der Mensch gestellt wird, ein spannendes Thema mit vielen erzählenswerten Konflikten ist.“ Und auch für Ubisoft Producer Christopher Schmitz ist es wichtig, dass sich Spieler in einem Kontext bewegen können, „der interessant ist, der aber auch mal vielleicht zum Nachdenken anregt.“ Wie sich diese Grundintentionen in den kreierten Spielewelten manifestieren und wie sich die existentielle Bedrohung des Klimawandels mit Spielespaß verbinden lässt, soll in Analysen des Strategiespiels Anno 2070 und des Adventure Games A new beginning herausgearbeitet werden. Zu untersuchen ist dabei zunächst, wie die Klimakrise und die aus ihr resultierenden Probleme genrespezifisch auf Handlungs- und Darstellungsebene inszeniert werden und welche Rolle dem Rezipienten als interaktivem Part der Spielhandlung zukommt. Um diese Erkenntnisse für die Nachhaltigkeitsbildung fruchtbar zu machen, wird im Anschluss daran ausgewertet, ob und auf welche medientypische Weise nachhaltigkeitsrelevante Kenntnisse und Werte vermittelt werden, also inwiefern Nachhaltigkeitsdimensionen und -strategien für Konflikte sowie ihre Lösungen relevant sind und in welcher Hinsicht die virtuelle Realitätskonstruktion der Entwicklung von Gestaltungskompetenz zuträglich sein kann. Diese multiperspektivische Herangehensweise ist den Gegenständen immanent, denn: „Die Inhalte der Computerspiele beeinflussen die Denk- und Wahrnehmungsmuster der Spieler so stark, dass die Fortführung der intensiven wissenschaftlichen und möglichst auch interdisziplinären Auseinandersetzung mit der Thematik für die Gesellschaft hoch bedeutsam ist.“
In der Tat konnte die Computerspielforschung in den Jahren seit dem Entstehen der noch jungen Disziplin große Fortschritte bei der Herausarbeitung der spezifischen Medialität des Computerspiels erzielen. Die Ergebnisse ihrer Arbeiten erlauben einen Blick auf das Computerspiel als Medium der digitalen Medienkonvergenz , das sowohl narrative Elemente textueller und audiovisueller Erzählmedien (wie Film, Musik, Theater, Literatur u.a.), wie auch aus diversen Spielen bekannte, jedoch durch digitale Technologie erweiterte Lern- und Herausforderungsprozesse im Prozess der Selbsttätigkeit bzw. des Probehandelns vereinen kann. Diese enge Verzahnung von Weltkonstruktion und narrativer Involvierung sowie der psychomotorischen Erfahrung von Selbsttätigkeit, also dem beim Spieler ausgelösten Gefühl, selbst in fiktiven Szenarien tätig zu werden, erlaubt dem Computerspiel eine einzigartige Rezeptionsästhetik. Konsequenterweise kann dem Medium so auch ein besonderes Potential zur Vermittlung zahlreicher am Konzept der Gestaltungskompetenz beteiligter Teilkompetenzen attestiert werden – ob und wie dieses Potential auch von ‚Mainstream‘- Computerspielen genutzt wird, kann nur durch eine im Folgenden skizzierte Analyse erarbeitet werden.
2. Klimarettung durch Zeitreise: A new beginning
Mit A new beginning hat sich die deutsche Produktionsfirma Daedalic 2011 in einem Adventure Game auf innovative Weise des Klimawandels angenommen. Innovativ einerseits mit Blick auf die Integration dieses komplexen Themas in ein beliebtes Spielgenre, das sich bislang fernab realistischer Umweltkonflikte entwickelt hat, und innovativ andererseits mit Blick auf den Klimadiskurs, der in den öffentlichen Debatten schon mit Resignation und Übersättigung einhergeht, im Spiel aber durch experimentelle Fiktionsgestaltung pointiert zugespitzt wird.
2.1 Erzähltheoretische Annäherung
Im Unterschied zum Strategiespiel Anno 2070 weist das Adventure Game A new beginning einen festgelegten Plot mit facettenreich ausgearbeiteten Charakteren auf, von denen der Spieler im Lauf der insgesamt acht Kapitel abwechselnd die beiden Protagonisten Bent und Fay durch die Geschichte steuert.
Narrative Strukturen
Die Grundkomplikation der Handlung wird im filmisch ablaufenden Intro unverblümt zur Sprache gebracht: Die Menschen im 26. Jahrhundert stehen vor ihrer Auslöschung und werden den nächsten Sonnensturm nicht überstehen. „Unsere Zeit ist abgelaufen“ lässt Quadi seine Mitstreiter wissen und belegt seine Prognose durch entsprechende Schaubilder. Der erzähltheoretischen Terminologie von Leubner/Saupe zufolge erfahren die verbliebenen Erdenbewohner also eine Schädigung, die sie in ihrer gesamten Existenz bedroht. Als Faktoren für diese Schädigung werden der durch Messungen prognostizierte bevorstehende Sonnensturm sowie die mangelnde Kapazität des Erdmagnetfeldes, diese Eruption zu kompensieren angeführt. Der Plan, „den letzten Schritt […], den Schritt zurück…in die Vergangenheit“ (Intro) zu wagen, erscheint vor diesem Hintergrund als einzig mögliche Auflösung der Komplikation und bildet den Auftakt für das folgende Spielgeschehen. Die narrativen Leerstellen, die die Ursachen der dramatischen Entwicklungen ebenso offen lassen wie die konkrete Umsetzung der Zeitreise, bauen gemeinsam mit der dramatischen Musik Spannung auf und werden im weiteren Spielverlauf erst nach und nach aufgelöst.
Die norwegische Einöde, in der sich der Spieler im darauf folgenden Prolog wiederfindet, ist auf den ersten Blick als Kontrastwelt inszeniert, in der Flora und Fauna noch intakt sind und in der die größte Herausforderung der vom Spieler gesteuerten Figur Bent darin besteht, seinen kaputten „Fogger“ zu reparieren. Bei näherer Betrachtung fällt allerdings auf, dass sich die im 26. Jahrhundert zerstörte Welt in diesem Idyll bereits andeutet. So ist das Wasser durch Müll verschmutzt, die Vögel werden durch Lärm und Abgase des Foggers beeinträchtigt, Bent weigert sich zu angeln, um nicht zur Überfischung der Meere beizutragen und lässt man ihn in seiner Hütte den Fernseher einschalten, erfährt man von Demonstrationen in Oslo gegen die geplante Lizenzverlängerung für Kraftwerke des Energiekonzerns Indez Industries. Auch der geplante Keilriemenwechsel am Fogger, der zur ersten Aufgabe des Spielers wird, entpuppt sich als ein Ablenkungsmanöver von Bents wissenschaftlich verfolgten Weltrettungsambitionen, die letztlich zu Vereinsamung, Rückzug und Resignation geführt haben. Diese impliziten Verbindungen zwischen den grundverschiedenen Welten nehmen durch die Ankunft der Zeitreisenden Fay, die bereits im Intro kurz auftaucht, Gestalt an. Im Gegensatz zu Bents Psychologin, die seinen Samariterkomplex kritisiert, appelliert Fay an die Verantwortung des Wissenschaftlers: „Die ganze Welt stirbt. Deine Forschung könnte das verhindern.“ (Prolog) In den Erläuterungen, die man erhält, wenn man das Foto von Fays Team genauer betrachtet, werden darüber hinaus ebenfalls Kausalitäten zwischen dem Hier und Jetzt der Spielhandlung und der durch Fay repräsentierten Zukunft angesprochen: „Dieser ganze Materialismus ist doch überhaupt erst das, was zum Untergang geführt hat. Wir in der Zukunft brauchen das alles nicht. Wir wollen nur überleben.“ (Prolog) Die Beschränkung oder Rückbesinnung auf das Wesentliche fordert Bent und mit ihm den Spieler in seiner Position heraus und legt den Willen zu überleben als anthropologische, von äußeren Bedingungen unabhängige Konstante nahe.
Wird in Intro und Prolog also der Bogen zwischen Vergangenheit und ferner Zukunft geschlagen, landet der Spieler in den ersten beiden Kapiteln in der Rolle von Fay in einem weiteren Raum-Zeit-Kontinuum: San Francisco im Jahr 2050. Diese Zwischenstation knüpft direkt an Fays Erklärungen am Ende des Prologs an: „Wir sind Zeitpiloten. Wir wurden in das Jahr 2050 geschickt, um den Klimawandel aufzuhalten. […] Wir wollten die Fehler, die die Menschheit begangen hat, wieder gut machen. Doch wir hatten uns verrechnet.“ (Prolog) Die Sonneneruption wird somit rückwirkend als Klimawandelfolge deutlich und der Klimawandel erstmals explizit als Ursprung der gesamten Geschichte benannt. Seine Auswirkungen im Jahr 2050 werden für Fay – und damit auch den Rezipienten – in Form der menschenleeren, zerstörten Großstadt zum Handlungsraum und durch bebilderte Funknachrichten von Fays Kollegen auch in ihrer globalen Dimension sichtbar: Dina steht im überschwemmten London das Wasser wörtlich fast bis zum Hals, Josep klammert sich unter dem im Sturmwind wankenden Eifelturm fest, wird aber letztlich von einer Holzplanke mitgerissen, Hardy erfriert vor der Basilius-Kathedrale und Fays beste Freundin Sadi ist im brasilianischen Dschungel den Strahlen eines Atomkraftwerks ausgesetzt, das im weiteren Verlauf noch an Bedeutung gewinnt. All diese Gegebenheiten und Ereignisse des Jahres 2050 werden als Narration in der Narration inszeniert und in die zwischendurch eingeblendete Gesprächssituation an Bents Küchentisch eingebettet. Während Fay also immer wieder Bents Nachfragen, Zwischenbemerkungen und Zweifelsbekundungen kommentiert, steuert der Spieler die Zeitreisende durch die Überreste eines Hotels, einer Bibliothek sowie das nähere Umfeld. Dabei hat er diverse Aufgaben zu lösen, ohne deren erfolgreiche Bewerkstelligung die Geschichte nicht weitergeht. Obwohl diese beiden Kapitel ganz am Ende des Spiels als Lüge entlarvt und damit Bents Zweifel an der Plausibilität von Fays Argumentation bestätigt werden, sind sie zum Spielzeitpunkt fester Bestandteil der Handlungslogik. Genauso wie Bent innerhalb der Fiktion wird auf diese Weise auch der Spieler mit der Option konfrontiert, dass es nicht erst im weit entfernten 26. Jahrhundert, sondern bereits 2050 zu spät sein könnte, den Klimawandel aufzuhalten. Das abstrakte und zeitlich wie räumlich weit entfernt erscheinende Phänomen Erderwärmung wird somit zu einer absehbaren, omnipräsenten Bedrohung, die Bents wissenschaftlichen Prognosen zuwiderläuft und vom Rezipienten zumindest „durchgespielt“ werden muss, also nicht verdrängt werden kann.
Da sich Bent dennoch weigert, Fay bei ihrer Weltrettungsmission zu unterstützen, wird er schließlich entführt und erfährt im Flugzeug von den bisherigen Geschehnissen auf der Klimakonferenz in Oslo, die sie als Ziel ansteuern. Die Erzählung ist erneut als Rückblick gestaltet, in dem der Spieler Fay durch die pompösen Tagungsräumlichkeiten steuert. Während sie verschiedene Aufgaben und Konfliktsituationen meistern muss, wird Klimawandel als ein von Macht- und Geldgier dominiertes Handlungsfeld deutlich, in dem wahre Umweltschutzambitionen genauso wenig Platz haben wie die durch die Zeitreisenden verkörperten Zukunftsprognosen.
Damit Bent die von ihm als alternative Energiequelle erforschte Algentechnologie in Oslo präsentieren kann, ist ein Zwischenstopp auf seiner ehemaligen Forschungsstation notwendig, die inzwischen von seinem Sohn Duve geführt wird. Hier überschlagen sich die Ereignisse und statt in Oslo findet sich der Trupp um Bent und Fay schließlich im brasilianischen Dschungel am Standort des Atomenergieriesen Indez wieder, um die von diesem entwendete Alge zurückzuholen. Fays Vorgesetzter Salvador plant inzwischen allerdings die Sprengung des Atomkraftwerks, um einen KlimaGAU auszulösen, der die Menschen endlich zum Umdenken bewegt. Hat Fay also bereits durch ihre erfundene Geschichte aus dem Jahr 2050 versucht, den Klimawandel in greifbarere Nähe zu rücken und dadurch zum Handeln zu motivieren, schlägt Salvador einen wesentlich radikaleren Weg ein, indem er die flächendeckende Zerstörung von Flora und Fauna selbst vorweg nimmt, den Menschen die Lebensgrundlage entzieht und sie damit zum Handeln zwingt. Sein Argument „Die Menschen brauchen einen Anstoß, um zu handeln. Ohne unmittelbare Bedrohung rühren sie keinen Finger.“ (Kapitel 8: Der Phönix-Plan) macht den sogenannten Phönix-Plan der Zeitreisenden als fatal-logische Konsequenz menschlicher Verdrängungsmechanismen deutlich und bringt indirekt auch die Schwierigkeit, mit einem unsichtbaren Phänomen wie dem Klimawandel umzugehen auf den Punkt. Bents verzweifelte Versuche, Salvador vom Gegenteil zu überzeugen, muten dagegen idealistisch und naiv an. Seine Beteuerung „Aber wir können uns ändern.“ (Kapitel 8: Der Phönix-Plan) hat Salvadors fatalistischem „Wir opfern uns für den Fortbestand der Menschheit.“ (Kapitel 8: Der Phönix-Plan) nichts entgegenzusetzen. Dass Fay schließlich die Initiative ergreift und sich und Salvador vernichtet, ist der Logik der Zeitreise folgend zwar notwendige Konsequenz der intendierten Veränderung von Vergangenheit, bewahrt die Welt aber zumindest vor Salvadors zerstörerischem Rundumschlag. Die Auflösung der Grundkomplikation bleibt demnach offen, denn auch wenn der Tod der Zukunftsmenschen von Anfang an Teil ihrer Mission war, ihre individuelle Auslöschung also nicht zu verhindern ist, erhält zumindest die Spezies Mensch eine neue Chance, ihrer kollektiven Vernichtung vorzubeugen. Die Anerkennung und Förderung von Bents Forschung an Algen als alternativen Energiequellen wird als erster Schritt in diese Richtung im Epilog zumindest in Aussicht gestellt.
Diese raum-zeitlichen Zusammenhänge sollen in der folgenden Tabelle noch einmal veranschaulicht werden:
KAPITEL | ZEIT | RAUM | PERSPEKTIVE |
Intro |
|
Unterirdische Bunker | —– |
Prolog | Zwischen 20. und 27.3.1982 | Norwegisches Land | Bent |
Kap.1: Bleierne Luft | 2050 (mit Zwischenblenden) | Verwüstetes San Francisco | Fay |
Kap.2: Eine Nacht im Global | |||
Kap.3: Raues Erwachen | Zwischen 20. und 27.3.1982 | Flugzeug | Bent und Fay |
Kap.4: Die Konferenz | 20.3.1982 | Oslo | Fay |
Kap.5: Atlas, Teil 1 | Zwischen 20. und 27.3.1982 | Forschungsstation | Bent und Fay |
Kap.6: Atlas, Teil 2 | |||
Kap.7: Bent Svenson ist tot | 27.3.1982 | Brasilianischer Dschungel | Bent und Fay |
Kap.8: Der Phönix-Plan | 27.3.1982 | Indez-Kraftwerk | Bent und Fay |
Als erstes Zwischenfazit lässt sich also zunächst festhalten, dass der Klimawandel auf Handlungsebene als ereignisauslösendes Moment hergeleitet wird, der durch die Zeitreise verhindert werden soll und demnach als Rahmen und roter Faden der Erzählung fungiert. Mit diesem Haupthandlungsstrang werden diverse Nebenhandlungen verbunden, die direkt oder indirekt zur Geschichte oder auch zur Figurenkonzeption beitragen. So werden beispielsweise Bents resignative Haltung sowie der eskalierende Konflikt mit seinem Sohn Duve als Resultat seiner gescheiterten und verlustreichen Weltrettungsambitionen offen gelegt. Die Unfälle und Verschwörungen auf der Forschungsstation sind einerseits Symptome der Vater-Sohn-Krise, gleichzeitig aber auch für den Spannungsaufbau von Bedeutung. Dagegen tragen die Lebensgeschichten einzelner Mitarbeiter der Forschungsstation sowie des Indez-Kraftwerks vor allem dazu bei, die große Weltrettungsmission in sozialen Strukturen mit Wiedererkennungseffekten zu verankern. Mit den Worten Claas Palettas: „Die Geschichte verwebt viele Handlungsstränge, neben der Haupthandlung wird natürlich auch der Hintergrund von Fay und Bent beleuchtet. Beide werden eher unfreiwillig mit der Aufgabe konfrontiert, die Welt retten zu müssen. Mehr als 30 Charaktere unterstützen und behindern sie dabei.“
Obwohl der Spieler also mit Fay und Bent zwei Figuren steuern muss, die als potentielle Weltretter den „Guten“ zuzurechnen sind, wird er im Lauf der Spielhandlung mit zahlreichen unterschiedlichen Perspektiven konfrontiert und erhält auch in Konflikten zwischen seinen Schützlingen divergente Sichtweisen auf die Mission der Weltrettung. Diese Diversität der Charaktere schlägt sich auch sprachlich nieder. So zeichnet sich Bents Figurenrede durch einen (selbst-)ironischen bis zynischen Unterton aus, Fay hingegen wirkt ihrer Situation in der fremden Welt entsprechend oft kindlich-naiv, wohingegen Salvador sich häufig in Imperativen äußert. Insgesamt sind die Sätze in den Dialogen, die der Spieler durch Auswahl von Äußerungen mitgestalten kann bzw. muss, kurz gehalten, längere Redepassagen laufen hingegen eher monologartig ab und finden sich in Schlüsselszenen wie beispielsweise Salvadors Erläuterung und Begründung des Phönix-Plans wieder. Durch Kommentierung von ins Leere laufenden Handlungsversuchen treten die Figuren teilweise auch indirekt mit dem Spieler in Kontakt, wodurch die Grenzen zwischen Spiel- und Spielerwelt zwischenzeitlich verwischen.
Interaktive Beteiligung am Geschehen
Von grundlegender Bedeutung für die Analyse interaktiver Erzählungen sehen Leubner/Saupe die „Art der Kombination von Narrativität und Interaktivität sowie gegebenenfalls von Spielelementen“ . Diese drei Komponenten stehen in A new beginning in einem engen Zusammenhang, denn die Entfaltung der Narration setzt in den meisten Fällen Interaktivität voraus, diese ist wiederum häufig mit Spielelementen verbunden. So erscheint Fay im Prolog erst dann, wenn der Spieler Speiseöl und einen alten Fahrradschlauch für den Keilriemenwechsel in sein Inventar aufgenommen hat und versucht, ihn für die gemeinsame Mission der Weltrettung zu gewinnen. Solange der Spieler hingegen nicht herausfindet, welche Utensilien zum Austausch des gerissenen Keilriemens notwendig sind, bleibt er in der Handlung und in diesem Fall in der norwegischen Einöde stecken und kann unzählige Male zwischen Bents Hütte und dem zu reparierenden Fogger hin- und herlaufen. Der von Leubner/Saupe vorgeschlagenen Klassifikation zufolge lässt sich A new beginning demnach als gelenktes Netzwerk einordnen. Das heißt, es gibt zwar einen festen Start- und Zielpunkt sowie obligatorisch zu durchlaufende Stationen, die Ansteuerung dieser Fixpunkte ist aber mit Variationen möglich. Ob der Spieler Bent in seinem Haus zunächst alle Gegenstände betrachten und kommentieren oder direkt Speiseöl und Werkstattschlüssel mitnehmen lässt, liegt in seinem Ermessen und ist nicht vorgegeben . Der Fernsehbericht über die Demonstrationen in Oslo bringt den Spieler zwar nicht weiter, fügt sich aber rückwirkend sinnvoll in den Plot ein, lässt sich erst im Nachhinein als Vorausdeutung auf das weitere Geschehen erkennen und kann damit als „Mehrwert“ betrachtet werden.
Neben den obligatorischen Aufgaben, die notwendig sind, um im Spielverlauf voranzukommen und den Informationen, die der Spieler fakultativ sammeln kann, tauchen im Handlungsverlauf auch immer wieder Minispiele auf. Obwohl diese Knobelaufgaben nichts mit der Geschichte im engeren Sinne zu tun haben, hält sich die Störung der Handlung, die Kritiker interaktiver Erzählungen monieren , in Grenzen, da der Rezipient nach mehreren Fehlversuchen auch die Möglichkeit hat, die entsprechenden Stellen zu überspringen. Das enge, sich ergänzende Wechselverhältnis von Narration, Interaktivität und Spiel geht einher mit dem ontologisch-internen Spielmodus, das heißt, der Rezipient ist
- nicht nur erkundender Beobachter (explorativer Modus), sondern kann die Handlung durch eigenes Tun beeinflussen (ontologischer Modus) und
- nicht in einer gottähnlichen Position über der Spielhandlung (externer Modus), sondern als Figur innerhalb der fiktiven Welt direkt am Geschehen beteiligt (interner Modus). Die Einbindung des Spielers in das Geschehen wird dadurch forciert, was auch im Hinblick auf die Nachhaltigkeitsbildung von Bedeutung ist.
2.2 Perspektiven der Nachhaltigkeitsbildung
Als zentral für eine nachhaltige Entwicklung sieht Gerhard de Haan die Herausbildung von Gestaltungskompetenz an und bezeichnet damit die Fähigkeit,
„Wissen über nachhaltige Entwicklung anwenden und Probleme nicht nachhaltiger Entwicklung erkennen zu können. Das heißt, aus Gegenwartsanalysen und Zukunftsstudien Schlussfolgerungen über ökologische, ökonomische und soziale Entwicklungen in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit ziehen und darauf basierende Entscheidungen treffen, verstehen und individuell, gemeinschaftlich und politisch umsetzen zu können, mit denen sich nachhaltige Entwicklungsprozesse verwirklichen lassen.“
Fasst man fiktionale Erzählungen als ästhetisch gestaltete Sonderform von Gegenwartsanalysen und Zukunftsstudien auf, liegt es nahe, sie hinsichtlich ihres Potentials zur Vermittlung und Förderung von Gestaltungskompetenz in den Fokus zu rücken. Ausgehend von de Haans Ausdifferenzierung des Konzeptes der Gestaltungskompetenz in zwölf Teilkompetenzen wird in den nächsten Abschnitten deshalb untersucht, inwiefern A new beginning zur Nachhaltigkeitsbildung beitragen kann. Teilkompetenzen, die in der Auseinandersetzung mit dem Spiel zu Redundanzen führen würden, werden gebündelt betrachtet.
Perspektivenreflexion und Empathiebildung (TK 1, 9, 12)
Im Vergleich zu Sachmedien zeichnen sich fiktive Geschichten dadurch aus, dass sie Fakteninformationen nicht nur objektiv aufbereiten, sondern affektiv aufladen und damit „eine eingehende emotionale und kognitive Auseinandersetzung mit Inhalten“ erfordern. Die Distanz, die bei der reinen Wissensvermittlung zwischen Sender, Nachricht und Empfänger besteht, wird bei der Rezeption von Fiktionen durch „das Hineingezogenwerden eines Zuschauers, Lesers oder Benutzers in die Welt des Textes“ aufgehoben. Dieses als Immersion bezeichnete Phänomen ist insbesondere im Zusammenhang mit EGames von zentraler Bedeutung, denn: „Computerspielen wird aufgrund des mit ihnen verbundenen Handlungszwanges ein potentiell hoher Immersionsgrad zugeschrieben. Sie vermögen die Vorteile verschiedener Medien zum Aufbau konsistenter Welten und dichter Atmosphäre zu vereinen.“
Da der Spieler in A new beginning zwei Figuren im Wechsel steuert, die Welt stellenweise auch durch deren Augen wahrnimmt und sich in den ihm zugeschriebenen Rollen immer wieder mit diversen anderen Interessensvertretern auseinander setzen muss, ist Reflexion polarisierender Perspektiven aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, fester Bestandteil des Spielgeschehens. Empathiebildung lässt sich als individueller Prozess zwar schwer erfassen, kann durch die vielschichtige Ausdifferenzierung insbesondere der Identifikationsfiguren aber zumindest angeregt werden. Denn auch wenn Bent als gescheiterter und resignierter Weltretter nicht unbedingt den attraktiven Superhelden repräsentiert, wird er gerade durch seine Vorgeschichte, seine Erinnerungen und seinen speziellen Blick auf die Welt als authentischer Sympathieträger inszeniert, der den Spieler vor neue Herausforderungen stellt. Und obwohl die idealtypisch proportionierte Fay in ihrem entsprechend hautengen Ganzkörperanzug zunächst eher als ein den Männern unterlegenes unwissendes Naivchen in Erscheinung tritt, entpuppt sie sich letztlich als wahre Heldin, an deren Entwicklung der Spieler direkt teilhaben kann. Indem sie die bereiste Vergangenheit vor ihrem eigenen Erfahrungshorizont kommentiert, stellt sie gleichzeitig selbstverständlich gewordene Gewohnheiten der Gegenwart in Frage. Wenn sie beispielsweise eine Colaflasche aus dem Automaten mit der Begründung ablehnt, das schwarze Zeug könne man sicher nicht mehr trinken, lässt dies das Kultgetränk in einem anderen Licht erscheinen.
Zukunftsbewusstsein (TK 2&4)
Obwohl die Spielhandlung vorwiegend im Jahr 1982 und damit in der Vergangenheit angesiedelt ist, wird der Spieler durch die Zeitreisenden mit zwei unterschiedlichen Zukünften sowie der Kausalität zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft konfrontiert. Sowohl für die ferne Zukunft des 26. Jahrhunderts als auch für die mittlere Zukunft im Jahr 2050 werden vermeidenswerte Szenarien entworfen, die schlüssig aufeinander aufbauen und sich nicht zuletzt in der Ausgestaltung der Räume manifestieren, zu deren Bestandteil der Spieler mittels seiner Figuren wird.
So leben die Menschen im 26. Jahrhundert in unterirdischen Bunkern und können nur für wenige Minuten in entsprechenden Schutzanzügen an die Erdoberfläche, um Messungen vorzunehmen. Aus späteren Aussagen und Reaktionen Fays lässt sich zudem schließen, dass andere Lebewesen bereits ausgestorben sind und Pillen Nahrungsmittel ersetzt haben, die Folgen des Klimawandels sich also weder räumlich noch sektoral eingrenzen lassen, sondern sich über die gesamte Erde erstrecken und alle Bereiche des Lebens beeinträchtigen.
Im Jahr 2050 wandelt der Spieler mit Fay durch die verlassenen und verfallenen Gebäude San Franciscos und wird per Funk Zeuge, wie ihre Kollegen nacheinander ums Leben kommen. Die globalen und existentiell bedrohlichen Dimensionen des Klimawandels werden in der Kombination von düsterer Comicgrafik und spannungsgeladener Musik multimedial vermittelt und sprechen damit alle Sinne an.
Dass es zur Aufgabe des Spielers wird, diese beängstigenden Entwicklungen zu verhindern, lässt sich durchaus auch als fiktionsübergreifende Aktivierungsstrategie begreifen. Denn auch wenn die irreversibel zerstörten Zukunftswelten den Spieler zwischenzeitlich vereinnahmen, werden sie durch die Zeitsprünge letztlich immer noch als vermeidbare präsentiert. Nimmt man nun McGonigals These ernst, dass bestimmte Spiele genau die Fähigkeiten erfordern und ausbilden, die zur Rettung der „echten Welt“ nötig sind , liegt die Vermutung nahe, dass gerade eine thematisch wie ästhetisch anspruchsvolle Produktion wie A new beginning Zukunftsräume nicht nur als Teil einer virtuellen Welt, sondern als gestaltbare Realität nahebringen kann. Das vermeidenswerte Szenario könnte somit als eine sich selbst verhindernde Prophezeiung wirksam werden.
Handlungsoptionen (TK 3&11)
Da die Figuren trotz ihrer realistischen Ausgestaltung wenig Alltagsnähe aufweisen, scheint auf den ersten Blick fraglich, ob sich aus ihren fiktiven Weltrettungsversuchen reale Handlungsoptionen ableiten lassen. Denn der Spieler kann weder die Gegenwart durch eine Reise in die Vergangenheit verändern noch ein Reaktorunglück provozieren und ob er sich infolge des Spiels der Erforschung alternativer Energiequellen zuwendet, scheint zumindest fraglich. Dennoch finden sich bei genauerer Betrachtung doch einige Ansatzpunkte für die Mitgestaltung einer besseren Welt, die mehr oder weniger überzeugend präsentiert, dem Spieler aber nie aufgedrängt, sondern lediglich angeboten werden.
So lehnt es Bent beispielsweise ab zu angeln, um nicht zur Überfischung der Meere beizutragen und Fay weist auf der Klimakonferenz einen Techniker wegen seines Autos mit den Worten zurecht: „Denkst Du überhaupt mal daran, wie sehr Du damit der Umwelt schadest? Wegen so rücksichtslosen Menschen wie dir steuert die Erde auf eine Klimakatastrophe zu.“ Neben diesen Suffizienzappellen wird durch die Kritik an der Atomenergie und die vergleichende Technikbewertung aber auch die Forderung nach Konsistenz- und Effizienzstrategien laut. Dementsprechend konstatiert Bent: „Wenn die Menschheit es schafft, sich eine ganze Welt aus Schmiermittel [Öl] zu bauen, dann könnten sie das auch mit meiner Alge tun, sie könnten es mit Windenergie. Oder Solar. Oder Kuhkacke. […] Ich weigere mich zu glauben, dass die Menschheit aus Idioten besteht.“ Indem er Potential und Vernunft der gesamten Menschheit betont, appelliert er indirekt an den Spieler, sich nicht in die Reihe der „Idioten“ einzugliedern und bewusst mit den verfügbaren Ressourcen umzugehen. Darüber hinaus wird die fiktive Algentechnologie als stellvertretend für real mögliche Alternativen hervorgehoben.
Im Gegensatz dazu muten die Versuche der politischen Einflussnahme etwas halbherzig an. Naiv erscheint bereits der Plan von Fays Mentor Nigel: „Wir suchen die politischen Führer, stellen sie zur Rede und überzeugen sie, vernünftiger mit dem Planeten umzugehen.“ Auch die Umweltschützer, die Fay auf der Klimakonferenz trifft, wirken klischeeisiert und dadurch eher abschreckend als motivierend. So begrüßen sie Fay mit der esoterisch anmutenden Floskel „Die Erde sei mit dir“ und legen damit ein Verständnis von Umweltschutz als Ersatzreligion nahe. Ihre Anwesenheit begründen sie naiv mit den Worten: „Wir wollen den Leuten da drin einfach zeigen, wie viele Menschen gegen Atomkraft sind. Vielleicht überlegen sie es sich dann noch mal.“ (Kapitel4: Die Konferenz) Salvadors Kritik an derartig wirkungslosen Aktionen lässt sich allerdings nicht nur auf die Randgruppe der Umweltschützer, sondern insgesamt auf politische Prozesse beziehen: „Sie werden nichts erreichen, wenn sie nur rumstehen und ihre Plakate schwenken. Deswegen sind wir doch erst in diese Zeit zurückgesprungen. Weil die Menschen nur geredet und nicht gehandelt haben.“
(Kapitel 4: Die Konferenz) Neben Nachhaltigkeitsstrategien und Politik wird auch der Einfluss ästhetischer Werke zur Diskussion gestellt. Während Fay im ersten Gespräch mit Bent noch Unverständnis darüber äußert, warum ihre Freunde europäische Kunst anschauen wollen, da sich ihr nicht erschließt, inwiefern das ihrer Weltrettungsmission dienlich sein soll, avanciert im Epilog Journalist Oggy mit seinem Roman Der Phönix Plan zum erfolgreichen Autor, stellt die zentrale Frage „Wie animiert man 7 Mrd. Menschen zum Handeln?“ (Epilog) und verweist auf das provokative Potential von Popkultur. Auf indirekte Weise wird damit fiktionsintern auch eine mögliche fiktionsexterne Wirkung des Spiels, dessen Teile der fiktiv-fiktive Roman aufgreift, in Aussicht gestellt.
Gerechtigkeitsvorstellungen (TK 10) und Zielkonflikte (TK 6)
Die drei Nachhaltigkeitsdimensionen Ökologie, Ökonomie und Soziales werden innerhalb des Spiels fast vorwiegend als unvereinbare Gegenpole inszeniert und dementsprechend durch grundverschiedene Figuren repräsentiert. Auf diese Weise erhält der Spieler vielfältige Einblicke in die mit Nachhaltigkeitsprozessen verbundenen Gerechtigkeitsvorstellungen und Zielkonflikte.
Schon der Ausgangssituation ist das Dilemma intergenerationeller (Un-)Gerechtigkeit immanent, denn die Erdenbewohner des 26. Jahrhunderts fallen letztlich den kurzsichtigen und egoistischen Lebens- und Wirtschaftsweisen der Vergangenheit zum Opfer. Indem sie in der Zeit zurückreisen, repräsentieren sie mit der weit entfernten Zukunft nicht nur eine gesellschaftlich ausgegrenzte Zeitdimension, sondern gleichzeitig ein altruistisches Gegenmodell, das individuelle Interessen der kollektiven Menschheitsbewahrung unterordnet.
Intragenerationelle Ungerechtigkeit wird im brasilianischen Dschungel zumindest dadurch angedeutet, dass Indez Industries als Fremdinvestor das gesamte Land besitzt, während die einheimischen Arbeiter ihre Lebensqualität durch Alkoholkonsum aufbessern. Gleichzeitig lässt sich an dieser Stelle aber auch der Konflikt zwischen Ökologie und Sozialem aufzeigen. Denn ungeachtet der ökologischen Auswirkungen des Kraftwerks sind sich Barkeeper und Sicherheitssoldat einig: „[Svensson ist] ein durchgeknallter Wissenschaftler und Ökoterrorist. Hätte mich fast arbeitslos gemacht, der Spinner. […] diese selbsternannten Weltverbesserer wollen nur den Markt kaputt machen.“ (Kapitel 7: Bent Svensson ist tot) Alternative Energiequellen bedeuten für die Arbeiter des Kraftwerks demnach ausschließlich den Verlust ihrer Arbeitsplätze und ihres sozialen Status. Doch nicht nur sie, sondern auch Bents ökologische Forschungen unterliegen ökonomischen Prinzipien. So betont sein ehemaliger Mitarbeiter Barney:
„Keiner will mit spießigen Ökos Geschäfte machen. […] Wir brauchen das Geld. Und das bedeutet nun mal auch, dass wir uns bei reichen, arroganten Geschäftsleuten anbiedern müssen, damit du forschen kannst. […] Da ist manchmal kein Platz für Weltverbesserungsromantik. […] Manchmal muss man eben Kompromisse eingehen, wenn man Gutes tun will.“ (Kapitel 5: Atlas, Teil I)
Eine Relativierung dieser ökonomischen Übermacht über Ökologie und Soziales ist letztlich nur durch die zerstörten, menschenleeren Zukunftsräume möglich, die dem Spieler einen Wissensvorsprung gegenüber den wirtschaftsgläubigen Figuren verschaffen.
Kollektiverfahrungen (TK 5, 7, 8)
Da es sich bei A new beginning um ein Singleplayer-Game handelt, treten Kollektiverfahrungen im Spielverlauf eher in den Hintergrund. Zwar sind die Figuren innerhalb der Handlung immer wieder aufeinander angewiesen, agieren aber größtenteils im Alleingang und teils auch gegeneinander. Lediglich am Ende, als Bent zur Klimakonferenz eingeladen wird und seine Forschungen versöhnt mit Sohn Duve fortsetzt, lässt sich erkennen, dass die großen Probleme der Zukunft nur durch Kooperationen gelöst werden können. Ob dies aber direkt auf den Spieler übertragbar ist, scheint fraglich und im Vergleich zu den bislang angeführten Kompetenzen eher weniger offensichtlich.
Insgesamt ist zu konstatieren, dass A new beginning die Umweltproblematik als erstes Adventure Game aufgreift, die Komplexität des Themas auch in der narrativen Struktur umsetzt und vielfältige Anknüpfungspunkte für die Förderung von Gestaltungskompetenz bietet, die in der Forschung mindestens ebenso viel Berücksichtigung finden müssten wie die bekannten und oft reduktionistisch verhandelten Problemfelder des EGames.
3. Wirtschaften zwischen Postapokalypse und Ökoutopie: Anno 2070
Das 2011 erschienene Aufbaustrategiespiel Anno 2070 teilt trotz offensichtlicher Unterschiede in Genre und Spielprinzip einige zentrale Eigenschaften mit A new beginning: So beschäftigt es sich nicht nur als erster ‚Mainstream‘ -Titel seines Genres mit der Thematik des Klimawandels, sondern ist ebenfalls das Produkt eines bekannten deutschsprachigen Entwicklerstudios. Anno 2070 ist der neueste Teil der traditionsreichen Anno- Reihe, die seit 1998 vom österreichischen Entwicklerstudio Blue Byte (und seit 2004 vom deutschen Entwickler Related Designs) entwickelt wird. Die Anno-Serie zählt mit ihrer langen Geschichte und den vergleichsweise hohen Absatzzahlen ihrer Einzelteile (nach dem 1998 erschienenen Anno 1602 die Nachfolger Anno 1503, -1701 und -1404) als Flaggschiff der deutschsprachigen Spieleszene und wird von Spielern aller Altersstufen konsumiert. Gerade aufgrund der hohen öffentlichen Sichtbarkeit der Serie ist es umso bedeutender, dass ihr neuester – vom Branchenriesen Ubisoft unter hohem finanziellen Aufwand vermarkteter – Teil sich dem Thema des Klimawandels und damit auch Fragen zur Nachhaltigkeit künftiger Entwicklung zuwendet.
3.1 Erzähltheoretische Annäherung
Eine verwandelte Welt: Das Setting
„Statusupdate: Erde. Aktuelles Jahr: 2070. Kontinuierlich steigender Meeresspiegel verändert Ökosysteme. Zahlreiche Küsten überflutet, weitere Regionen gefährdet. Etliche Küstenmetropolen aufgegeben. Dürren und Missernten verursachen Völkerwanderungen. Nationale Strukturen verlieren an Bedeutung, die bekannte Ordnung versinkt mit den Küstenstädten im Meer. Klimawandel verschärft Verteilungskampf um verbleibende Rohstoffe. Umdenken erforderlich.“
Diese Sätze, vorgetragen durch die künstliche Intelligenz und Assistentin des Spielers EVE und garniert mit Videoausschnitten überschwemmter Städte sowie Infografiken im Stil aktueller Fernsehberichterstattung, dienen als grobe Einführung in die Welt von Anno 2070. Sie beschwören skizzenhaft das apokalyptische Schreckensbild einer dystopischen Zukunft, in der die von Klimaforschern angedeuteten und von Mainstream-Medien beschworenen Negativfolgen eines katastrophalen anthropogenen Klimawandels Wirklichkeit geworden sind: Fruchtbares Ackerland und zahlreiche Küstenstädte sind verloren, politische Strukturen und bisherige Lebensstile kollabiert – die Aktivitäten des Spielers, der in die Rolle eines anonymen „Archekommandanten“ schlüpft, können hier über die Zukunft einer ums Überleben kämpfenden Menschheit entscheiden. Damit bricht das Setting von Anno 2070 schon vor dem ersten Mausklick mit dem Weltentwurf seiner Vorgänger: Ihre farbenfrohen Inselwelten waren bislang in den unkartographierten Regionen einer (früh-)neuzeitlichen Vergangenheit lokalisiert, also in einem nicht näher beschriebenen Potpourri aus amerikanischen, asiatischen und afrikanischen Inselterritorien . Die Aktivitäten des Spielers erklärten sich durch die Metaerzählungen von Kolonialismus und Imperialismus – neues Land, „jungfräuliche Erde“ wird von wagemutigen europäischen Entdeckern erschlossen und von umtriebigen Siedlern gezähmt, um schließlich neue Städte, Handelskreisläufe und Armeen hervorzubringen und so die Zivilisation westlichen Modells über die ganze Welt zu verbreiten.
Ein Bruch mit der Tradition? Legitimierung des Handelns
Daneben bietet Anno 2070 anders als seine Vorgänger eine komplexere Erklärung für die Aktivitäten des Spielers Die Einzelspielerkampagnen früherer Anno-Teile waren meist nur zunehmend anspruchsvollere Herausforderungen in unterschiedlichen Inselarchipelen, die durch grobe Erzählgerüste miteinander verbunden werden; sie dienen meist nur als erweitertes ‚Tutorial‘, um Spieler auf das „Endlosspiel“ auf zufallsgenerierten Inseln vorzubereiten. Der Fokus liegt bei diesen Titeln klar auf dem traditionellen Gameplay des Wirtschafts-/Aufbaustrategiespiels; es geht um ökonomische Herausforderungen wie die effiziente Förderung von Ressourcen, ihre schnelle Weiterverarbeitung und den Transport aller Waren zwischen Fördereinrichtungen, verarbeitenden Betrieben und den Konsumenten. Die Gründe dieses Handelns mussten auch kaum erklärt werden, ergaben sie sich doch immer aus den tief in unserer Gesellschaft verwurzelten Metaerzählungen ursprünglich kolonialistischer, heute in neoliberal-globalisierte Form überführter Wachstumsrhetorik: Nie enden-wollendes Wachstum und Effizienzsteigerung zur Ankurbelung des individuellen Konsums, welcher wiederum das Wachstum der Wirtschaft stimuliert und so weiter – Ökonomie als Selbstzweck. Der Umstand, dass Anno 2070 als das erste Spiel der Reihe eine explizite Erzählung außerhalb dieser metanarrativen Automatismen bietet (es gilt, eine Welt wiederaufzubauen), kann als Hinweis darauf gelesen werden, dass inzwischen ein neues Bewusstsein für die (fehlende) Ethik der bisher wie selbstverständlich genutzten ökonomischen Konzepte existiert und diese selbst in wirtschaftlich geprägten Computerspielen neu verhandelt und legitimiert werden müssen – eben durch die Auseinandersetzung mit Fragen zum Klimawandel und zur Nachhaltigkeit des Wirtschaftens. Ob sich diese Hypothese als haltbar erweist, lässt sich jedoch nur durch eine umfassende Untersuchung aller Aspekte von Anno 2070, also der narrativen, wie auch der ludischen Spielanteile, herausfinden.
Utopie- Dystopie -Postapokalypse: Die Welt von Anno 2070
Dies ist umso relevanter, weil Computerspiele eben nicht nur durch ihre expliziten Erzählelemente narrative Inhalte vermitteln, sondern als Paradebeispiel des „totalen Medienverbunds“ digitaler Medien auch zahlreiche heterogene (semiotische) Zeichensysteme zur Vermittlung von sensorischen Eindrücken nutzen können. Spieler erleben eben nicht nur eine interaktive Geschichte in Wort und Text, sie erkunden virtuelle Raumsimulationen, hören Geräusche und Musik, lesen Texte und meistern Herausforderungen – alles Erfahrungsdimensionen, die den Eindruck eines Spiels entscheidend mitbestimmen. Eine rein narrative Analyse von Anno 2070 wäre auch deswegen nicht so fruchtbar wie beim stark durch Text und Sprache organisierten Adventure A new Beginning, weil, wie schon zuvor angedeutet, das Genre des Aufbaustrategiespiels rein strukturell (perspektivisch und exaitetisch ) andere Schwerpunkte besitzen muss, wenn es mechanisch funktionieren soll – mit anderen Worten: Wer das nach der Genreanalyse von Claus Pias als „konfigurationskritisch“ ausgezeichnete Aufbaustrategiespiel ohne Rücksicht auf dessen Spezifika analysieren will wie ein „entscheidungskritisch“ ausgerichtetes Adventure, wird automatisch enttäuscht werden (und ebenso umgekehrt). Deswegen werden hier auch exemplarisch vor jeder Untersuchung der ‚expliziten‘ Erzählung andere gleichberechtigte Organe der Weltvermittlung, also audiovisuelle, räumliche und ludische Vermittlungsmethoden genauer analysiert – nur so lässt sich herausfinden, ob hier eine Homologie der Botschaften vorliegt, also das Spiel den Klimawandel nicht nur kurz anzitiert, sondern sich als Ganzes dem Thema widmet.
Blühende Landschaften: Die Inselwelt
Rein oberflächlich gesehen erscheinen die Inselarchipele von Anno 2070, also die von schräg oben „objektiv“ perspektivierte Ansammlung von Inseln, Felsriffen und Meeresflächen, den Welten ihrer Vorgänger nicht unähnlich: Vor der Besiedelung durch den Spieler und computergesteuerte Kontrahenten erscheint die Inselwelt als unberührtes Eden, als ‚jungfräuliche Erde‘ im kolonialistischen Sinn: Dutzende von fruchtbaren Inseln verschiedener Formen und Größen scheinen nur auf ihre Besiedelung zu warten. Ihre grünen Felder, Wälder, Bergketten und Flüsse sind dabei nicht nur ästhetisch reizvoll, sondern funktionieren auch als Rohstoffquellen: Wälder liefern Holz, Felder können zum Anbau von Tee, Getreide, Gemüse und zur Viehzucht genutzt werden, Flüsse bieten Hydroenergie und Sand (zur Herstellung von Beton und Mikrochips) und Berge liefern Kohle, Eisen und exotische Materialien wie Uran. Doch wo kommen diese unberührten rohstoffreichen Inselarchipele her? Wir müssen uns ins Gedächtnis rufen, dass Anno 2070 nicht länger im Zeitalter des Frühkolonialismus spielt, also in einer Ära, in der es aufgrund der niedrigen globalen Bevölkerungsdichte und logistischen Begrenzungen noch durchaus Landstriche geben konnte, die nicht von Menschen besiedelt worden waren. Da schon gegen 1900 kaum noch ‚weiße Flecken‘ auf der Weltkarte zu finden waren, erscheint die Existenz ebensolcher Bereiche in jedem anderen konventionellen Zukunftsszenario einer weltumspannenden technologischen Zivilisation höchst unglaubwürdig.
Doch hier bieten die katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels einen Ausweg: Die Inseln von Anno 2070 waren vor dem Kollaps der Ökosysteme keine Inseln, sondern zuvor unfruchtbare Hochebenen – alles, was vorher Insel war, wurde ebenso wie das fruchtbare Land der Küstengebiete und die dortigen Metropolen längst durch den gestiegenen Meeresspiegel überflutet. Die neuen Paradiese sind also menschengemacht – und tragen an einem schweren Erbe, das immer wieder unter der Oberfläche aufscheint. Genauer: unter der Meeresoberfläche. Denn Anno 2070 bietet als erster Teil der Serie auch einen Blick unter Wasser, auf unterseeische Naturphänomene wie geothermale ‚black smokers‘ und mächtige Riffe, aber auch auf die Ruinen versunkener Städte, die grau und bedrohlich zwischen den unterseeischen Felsformationen hervorstechen. Diesen unangenehmen, an die Zerbrechlichkeit der Zivilisation gemahnenden Anblick können Spieler jedoch kaum vermeiden, wenn sie dem Spielprinzip – also der optimalen Nutzung aller vorhandenen Ressourcen – folgen wollen. Denn auch die Ruinen selbst können und müssen als Rohstoffquellen bei der Wiedererrichtung einer neuen Ordnung genutzt werden: Automatische Abbaueinrichtungen ermöglichen die Gewinnung recycelter Baumaterialien aus den Ruinen der Gegenwart für die Siedlungen der Zukunft. Diese unvermeidliche Konfrontation mit den Spuren der Klimakatastrophe setzt sich auch über Wasser fort: Zahlreiche Inseln beherbergen verborgene Überreste der alten Zivilisation wie geborstene, ihre Umgebung verseuchende Nuklearwaffen oder noch funktionierende Atmosphärenbereiniger aus der Zeit vor dem großen Kollaps – beides Elemente, die den Spieler in seinen Expansionsplänen behindern oder unterstützen können und sich weder ignorieren, noch mit einem Klick entfernen lassen. Dasselbe gilt für die Struktur der Inselwelt als Ganzes: Spieler können das Rad der Zeit nicht zurückdrehen, sie können den Meeresspiegel nicht wieder senken und die alten Ruinen in blühende Städte zurückverwandeln – sie können nur zwischen den Artefakten der Vergangenheit leben und das Beste aus der neuen Lage machen.
Bekannte Gesichter – Figuren und Fraktionen
Der apokalyptische Ursprung der „schönen neuen Welt“ von Anno 2070, der in der ökologischen Katastrophe unserer Zeit verortet wird, lässt sich also kaum ignorieren – und noch weniger, wenn man das Design und die Charakterisierung der auftretenden Figuren, Vehikel und Fraktionen, also der beweglichen Entitäten des Spiels, mit denen Spieler am meisten interagieren, berücksichtigt. Dies beginnt bei den sogenannten ‚NPCs‘ (Non-player-characters), also in diesem Fall den computergesteuerten Kontrahenten und Verhandlungspartnern, die die Inselwelt neben dem Spieler bewohnen. Ihre Charakterisierung ist aufgrund ihrer Funktion im ökonomisch-abstrakten Rahmen des Spielgeschehens vergleichsweise schwach und lässt sich leicht im Rahmen bereits etablierter Figurenschablonen verschiedener medialer Kontexte einordnen. So finden sich in den ‚konventionellen‘ Konkurrenten um die Besiedlung der Archipele Figurenschablonen aus dem ökologischen Medienkontext, von expansiven Ölmagnaten und friedliebenden Kommunenbewohnern über Ökoterroristen und emotionslose Technokraten. Alle siedeln nicht nur mit dem Spieler um die Wette, sondern richten sich auch in ihrem Handeln gegenüber dem menschlichen Konkurrenten und der Umwelt nach der Erwartungshaltung des Stereotyps aus: Die Ökoaktivistin Tilda Jorgensen baut zum Beispiel nur extrem kleine und umweltfreundliche Siedlungen und vermeidet die Produktion umweltschädlicher Produkte sowie Kriege, während der russische Ölbaron Vadim Sokow rücksichtslos jede Insel mit Ölvorkommen besiedelt und durch die Ausbeutung der Ressourcen in kürzester Zeit in ein lebloses Ödland verwandelt. Gerade trotz ihrer sehr eingeschränkten narrativen Charakterisierung sind diese Figuren für Spieler – und für die Frage nach nachhaltigen Lösungen – durch ihr (nur in Grundzügen festgelegtes, aber von Spiel zu Spiel flexibles) Verhalten in den einzelnen Partien relevant: Während Spieler ihre Inseln aufbauen, können sie immer einen Blick auf die Aktivitäten der Computerkonkurrenten werfen und deren Vorgehensweise als möglichen Lösungsvorschlag für den wirtschaftlichen Umgang mit Ressourcen und Wachstum bewerten. So werden die meisten Spieler wahrscheinlich spätestens dann, wenn einer der Öltanker von Vadim Sokow nach einer Havarie die Küste der umliegenden Inseln verseucht hat, ihre Energiestrategie überdenken.
Erweitert wird das Figureninventar von nicht -expansiven, also keine Siedlung verwaltenden Nebenfiguren, die jedoch auch in einem ständigen Austausch mit dem Spieler stehen. Dazu zählt ebenso der mit Dreadlocks und Kriegsbemalung versehene Pirat Hektor – eine ständige Gefahr für den Handelsverkehr – wie auch „Trenchcoat“, ein nomadischer Händler, der dringend benötigte Ressourcen und Technologien an den Höchstbietenden verkauft und dem Spieler im Lauf einer Partie öfter aus Ressourcenengpässen hilft. Beide residieren in typischen Geländemarken jeder modernen postapokalyptischen Welt: Hektors Piratenbasis besteht aus den halb untergegangenen Ruinen eines einst glänzenden, stark an das Chrysler Building in New York erinnernden Wolkenkratzers, welcher über den Trümmern einer untergegangen Metropole hervorragt. Trenchcoat befährt das Meer in einem verrosteten Flugzeugträger, der von bunten Partylichtern und Werbebeleuchtung erhellt wird, während Nutztiere und in Lumpen gekleidete Menschen das Deck bevölkern. Beide stehen so in ihrer Funktion – Tauschhandel auf der einen und die ständige Gefahr von Überfällen und Erpressung der Schwachen durch die Starken auf der anderen Seite – für die anarchistischen Elemente einer Welt, die sich grundsätzlich verändert hat.
Die Fraktionen: Wachstum und Nachhaltigkeit
Anno 2070 ist jedoch kein postapokalyptischer Überlebenssimulator (ein im Moment extrem populäres Genre ), sondern ein Aufbaustrategiespiel – also ein Spiel, dass die (Wieder-)Errichtung einer ökonomischen Ordnung zu seinem Hauptziel macht. Anders als seine Vorgänger bietet der Titel Spielern explizit die Wahl zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten, dieses Ziel zu erreichen – in der Form zweier globaler Organisationen, die um die Aufmerksamkeit und Loyalität des Spielers buhlen. Vor allem im Gegensatz zu anderen Strategiespielen, die ebenfalls unterschiedliche Fraktionen zur Auswahl bieten, ist auf den stark unterschiedlichen Fokus zu achten: Wo diese territoriale Konflikte zwischen Nationalstaaten und fiktiven Spezies inszenieren, teilt sich der Entscheidungshorizont in Anno 2070 nicht länger entlang ethnischer, religiöser oder territorialer Grenzen und Unterschiede, sondern nach dem Bekenntnis zu Ideen, oder besser ökonomisch und ökologisch ausformulierten Antworten auf die im Prolog implizierte Frage nach einem Umdenken im Angesicht des Klimawandels. Die beiden vom Spiel angebotenen Lösungswege finden ihre (vereinfachte) Repräsentation in den Primärfraktionen, den ‚Tycoons‘ des Global Trust und den ‚Ecos‘ der Eden Initiative. Am Anfang jeder Partie steht dabei auch die Entscheidung für eine von beiden Fraktionen (mit allen Vor- und Nachteilen), eine dritte (neutrale) steht jedoch Spielern beider Seiten zur Verfügung.
Globaler Kapitalismus nach dem Kollaps: Die Tycoons
Zunächst zum Global Trust: Der globale Zusammenschluss von Privatfirmen und Industriekonzernen, der sich aufgrund des Zusammenbruchs staatlicher Institutionen selbstständig gemacht hat, erinnert sowohl in Optik wie auch in Spielweise stark an medial vermittelte Stereotype einer Industriegesellschaft amerikanischer Prägung: Riesige Fabrikkomplexe mit rauchenden Schloten und hämmernden Maschinen, Wohnkasernen und dystopische grau-braune Industriearchitektur prägen das Aussehen der entwaldeten Tycoon-Inseln. Die Bedürfnisse der Bürger, welche nur durch ihre Funktion in der Firmenhierarchie bezeichnet werden, folgen der Charakterisierung einer vergnügungssüchtigen, dekadenten und manipulativen Konsumgesellschaft: Schon die Grundform des Tycoon-Bürgers, der ‚Tycoon-Angestellte‘, benötigt zum Aufstieg in eine höhere Siedlungsstufe neben ständiger Alkoholversorgung auch Zugang zu einem Casino. Höhere Bürgerstufen benötigen dazu noch Hamburger und andere Fertigmahlzeiten , große Mengen an umweltbelastenden Plastikgeschirr und Zugriff zu „Informationen“ (in Anführungszeichen geschrieben, weil diese durch ein Gebäude namens „Ministerium der Wahrheit“, bekannt durch den euphemistischen Namen des staatlichen Propagandaministeriums in George Orwells 1984, vermittelt werden). Die höchste Form des Tycoon-Bürgers, der Executive, benötigt neben all diesen Produkten auch Champagner, mit Trüffeln versetzte Luxusmahlzeiten, Diamantenschmuck und Anti-Aging-Pillen. Die Energie- und Rohstoffausgaben für die finalen Produktionsketten sind enorm: Um pharmazeutische (Schönheits- bzw. Lifestyle-)Produkte herzustellen, müssen beispielsweise riesige Förderkomplexe am Meeresgrund errichtet werden, die Algen, Omega Fettsäuren, Manganknollen und seltene Erden fördern. Die Rohstoffe gelangen mittels U-Booten an die Küste, um schließlich in oberirdischen Fabriken weiterverarbeitet und zu weiteren Vorprodukten kombiniert zu werden. Dieser Prozess verschlingt alleine schon so viel Energie wie eine mittelgroße Siedlung und verschmutzt darüber hinaus die Produktionsinseln. Wenn man auch noch die bei der Konstruktion der einzelnen Gebäude anfallenden Kosten (in der Form von Währungseinheiten, Werkzeugen, Stahl. Beton und Baumodulen) berücksichtigt, wird schnell klar, was für eine wirtschaftliche Belastung hinter der Produktion dieser Luxusgüter für die oberen 10% der Tycoon-Bevölkerung steckt.
Wirtschaftlich stehen die Tycoons in ihrer Selbstbeschreibung für ‚Effizienz‘ – eine Charakterisierung, die angesichts dieser Produktionsexzesse reichlich satirisch erscheinen mag, aber dennoch in begrenztem Maße zutrifft. Selbstverständlich stehen die Tycoons für die ökologisch besorgniserregendsten Auswüchse der Industrialisierung: Ihre Abhängigkeit von fossilen Energien – Kohle und Erdöl – macht schon die Energieerzeugung zu einem ökologisch höchst besorgniserregenden Prozess, der die Umwelt von Tycoon-Inseln sehr viel stärker als die alternativen Energiequellen der Ecos schädigt (Tycoon-Kraftwerke sind aber insofern effizienter, da sie meist sehr kompakt sind und keinen begrenzten Wirkungsradius besitzen). Die Produktionskreisläufe der für den Aufstieg von Tycoon-Bürgern in höhere Steuerklassen benötigten Ressourcen (Beton, Stahl, Plastik und Uran) sind wie bereits beschrieben nicht nur sehr komplex, sondern ebenfalls stark belastend für die Umwelt – so belastend, dass sich die betroffenen Inseln ohne weitere Gegenmaßnahmen in nur schwer bewohnbares Ödland mit Säure-Regen, unproduktiven Böden und einem hohen Erkrankungsrisiko für die Bevölkerung verwandeln. Dies schließt noch nicht die Katastrophen ein, die durch die aktive Nutzung riskanter Technologien wie Ölbohrplattformen und Nuklearkraftwerke entstehen können: Im schlimmsten Fall kann ein Tycoon-Atomkraftwerk detonieren und dabei einen Großteil der jeweiligen Insel auf lange Zeiträume (bis zu 30 Stunden realer Spielzeit) radioaktiv verseuchen. Die ‚räumliche Effizienz‘, also die massive Platzersparnis, die die kleineren Kraftwerke und Produktionsflächen der Tycoons bei selbem Output gegenüber ihren Eco-Entsprechungen anbieten, müssen unter diesen Umständen vorsichtig mit den möglichen Nachteilen abgewogen werden.
Auf dem Weg zur Ökoutopie? Die Ecos
Der ‚grüne‘ Weg der Eden Initiative birgt dagegen weit weniger offensichtliche Risiken. Statt auf die schnellstmögliche Ausbeutung aller vorhandenen Ressourcen setzen die Ecos auf erneuerbare Energien, nachwachsende Rohstoffe und umweltfreundliche Technologien und versuchen, die durch einen positiven oder negativen Zahlenwert repräsentierte Ökobilanz ihrer Inseln möglichst im Gleichgewicht zu halten. So gewinnen Eco-Spieler ihre Energie nicht aus Kohle und Öl, sondern aus umweltfreundlichen und dezidiert weniger explosiven, aber gleichzeitig auch weniger effizienten Wind- und Solarkraftwerken Während Eco-Baumaterialien und Ressourcen (Tee, Holz, Gemüse, Reis) in den meisten Fällen erneuerbar oder ohne größere Eingriffe in die Umwelt gewonnen werden können, benötigen ihre Produktionskreisläufe jedoch meist sehr viel mehr Platz als die der Tycoons – so müssen zum Teil ganze Inseln nur für die Bewirtschaftung organischer Farmen abgestellt werden. Der Umweltschutz ist dabei schon in die Produktionsprinzipien der Fraktion eingebaut: Da Farmen mit starken Produktionseinbußen auf eine schlechte lokale Ökobilanz reagieren, zieht umweltschädigendes Verhalten einen Zusammenbruch der Agrarproduktion nach sich.
Um dies zu verhindern, sind Eco-Spielern besonders viele Werkzeuge zur Umkehrung solcher Trends an die Hand gegeben: Die Möglichkeiten der futuristischen Technologie des Jahres 2070, die Ökobilanz einer Insel zu verbessern, reichen von Wetterkontrollstationen über CO-2-Reservoirs (in aufgegebenen Minenschächten) bis hin zu futuristischen Ozongeneratoren. Diese Einrichtungen erlauben eine massive Verbesserung der lokalen Ökobilanz und verwandeln Eco-Inseln in saftige, im Sonnenlicht glitzernde Landschaften, in denen organisch gestaltete Holz- und Glashäuser inmitten von Wäldern und Feldern stehen – so natürlich, als wären sie selbst wie Pflanzen auf ihrem Bauplatz gewachsen.
Nachhaltigkeit auf der Probe: das Spielprinzip
Doch die scheinbar offensichtliche Dichotomie zwischen den umweltschädlichen und gewinnorientierten Handlungsprinzipien der Tycoons und dem nachhaltig-ökologischen Ethos der Ecos geht nicht ganz auf – zumindest, wenn man die Botschaft des Prologs und des im Design der Welt beschworenen Klimakatastrophen-Szenarios als Forderung nach einem radikalen wirtschaftlichen Umdenken versteht. Denn so ‚grün‘ und ökobewusst die Ecos auch auf den ersten Blick erscheinen mögen, die grundsätzliche Logik ihres ökonomischen Handelns ist identisch mit dem der Tycoons: Optimale Ausnutzung aller Ressourcen bei kontinuierlicher Expansion und einer zunehmenden Ausdifferenzierung von Produktion und Konsum – das Endziel ist es, die gesamte Insel mit einem Netz aus Siedlungen und Produktionsgebäuden zu überziehen. Dies ist die zwangsmäßige Folge des Spielprinzips der Anno-Reihe: Bürger entwickeln (neue) Bedürfnisse, welche nur durch die Produktion neuer Güter auf anderen Inseln befriedigt werden können. Diese Güter lassen die Bürger in eine neue Zivilisations-/Siedlungsstufe aufsteigen, die sie mehr Steuern zahlen lässt – aber nur, wenn ihre neuen Bedürfnisse befriedigt werden etc. – ein Expansionsprozess, der erst mit der vollkommenen Ausbeutung der Inselwelt und durchschnittlich nach einem Dutzend Spielstunden seinen Abschluss findet: Am Ende leben die (meisten) Bürger dieser neuen Welt in einer technologischen Utopie (bzw. Dystopie, im Falle der Tycoons), in der jedes ihrer Bedürfnisse – von gebratenem Hummer über Energydrinks, PDAs, wertvollem Schmuck und Reinigungsrobotern vom Spieler befriedigt wird. Die Ecos sind dabei nicht weniger anspruchsvoll als die Tycoons: Die Produktionsketten, die zur Produktion hochstehender Konsumprodukte benötigt werden, sind nur unwesentlich einfacher und verschlingen ebenfalls viel Energie und Ressourcen. Insgesamt ist das Spiel in jeder Hinsicht längerfristig auf ein mechanisches Gleichgewicht ausgerichtet: Alle Nachteile der beiden Seiten können früher oder später durch den Einsatz der dritten Bonusfraktion, der Forscher von S.A.A.T., gelöst werden. In Akademie und Laboratorien kann beinahe jedes interaktive Element, von Rohstoffquellen über Fabriken und öffentliche Gebäude bis hin zu Vehikeln jeder Art, durch Forschungsaktivitäten mehrfach verbessert werden. Alles ist optimierbar: Die zunächst ineffiziente Energiegewinnung der Ecos ebenso wie die Produktivität und der Schadstoffausstoß aller sonst umweltbelastenden Produktionsgebäude – mit genug Forschung lässt sich sogar das Risiko eines atomaren Unfalls auf Null senken. Damit verlieren die Beschränkungen, die ethische Entscheidungen Spielern aufzwingen, in Anno 2070 nach und nach angesichts des Potentials von Technologie und Forschung ihre Bedeutung – und da selbst ausgelaugte Rohstoffquellen wie durch Zauberhand wieder aufgefüllt werden können, sind dem Traum vom endlosen Wachstum schließlich keine Grenzen gesetzt.
Genretraditionen vs. Nachhaltigkeit? Die Grenzen des Aufbaustrategiespiels
Wachstum ist in der Logik der Spielmechanik von Anno 2070 also kein Problem, sondern eine Notwendigkeit: Nur durch die Ausbeutung aller Ressourcen kann der Lebensstandard der Bevölkerung genug angehoben werden, um die Erforschung utopischer Technologien zu ermöglichen, die die globalen Probleme des Jahres 2070 lösen können.
Für diejenigen Rezipienten, die sich angesichts des im Prologs präsentierten Bedrohungsszenarios eine radikale Dekonstruktion konventioneller Lösungsansätze der Nachhaltigkeitsfrage durch Medien wünschen, mag Anno 2070 deshalb enttäuschend sein, transportiert es doch eine moderate Position, die den grundsätzlichen westlichen Glauben an Technologie und die Aufrechterhaltung aktueller individueller Konsumforderungen angesichts globaler Probleme weiterträgt. Dass das Spiel das Thema des Klimawandels auch in seiner tatsächlichen Einzelspielerkampagne nicht ernsthaft ausarbeitet , ist keine Überraschung – eher ein Überlebensreflex, denn mit der grundsätzlichen Infragestellung ökonomischer Expansion und kontinuierlichen Wachstums stellt ein Spiel wie Anno 2070 sich selbst und sein lang etabliertes Spielprinzip infrage.
3.2 Perspektiven der Nachhaltigkeitsbildung
(Fehlende) Empathiebildung (TK 1,6)
Die strukturellen Unterschiede zwischen Anno 2070 und A new beginning werden schon im ersten Punkt offensichtlich: Wo A new beginning durch den Wechsel individueller Perspektiven und den Austausch persönlicher Gedanken und Ansichten verschiedenster Figuren den empathischen Einblick in das Innenleben zahlreicher, von ökologischen Fragen bewegter Menschen bietet, bleibt Anno 2070 stark abstrakt: die Fraktionsführer und Nebenfiguren bleiben Stereotype ohne ausgeprägte Persönlichkeiten, die Stadtbürger selbst sind nur ameisengroß und vollkommen austauschbar – sie besitzen weder Namen noch Persönlichkeiten, sondern sind nur als volkswirtschaftliche Einheiten charakterisiert, als komplett berechenbare Konsumenten und Steuerzahler. Sich in die spezifische Lage der intradiegetischen Figuren einzufühlen, wird so kaum möglich.
Vorausschauendes Planen und Begreifen komplexer Systeme (TK 3,7,8,9,12)
Die sonst durch die Eingrenzung der Perspektive auf den semi-subjektiven und subjektiven Point of View erreichten Effekte würden auch den Hauptprinzipien und -stärken des Spiels entgegenwirken, denn Anno 2070 will vor allem eins: die Grundlagen von Entscheidungen und Handlungen sichtbar machen, um kompetentes Handeln zu ermöglichen. Der Verzicht auf eine starke Erzählung, komplexe psychologische Phänomene und individuelle Konflikte als Basis der Geschichte erlaubt es also, nicht nur die ökonomisch-logistischen Grundlagen des Geschehens (Bedürfnis X kann nur erfüllt werden, weil Ressourcen aus Insel A, B und C auf Insel D weiterverarbeitet werden), sondern auch die komplexen Hintergründe und Konsequenzen ökonomischen Handelns (in Erfolgen oder katastrophalen Unfällen) offenzulegen. Dabei ermöglicht die starke Betonung des Entscheidungscharakters in ökonomischen Fragen – sei es auf der Makroebene zwischen den beiden großen Fraktionen und ihren Handlungsoptionen, oder auf der Mikroebene bei der Entscheidung für oder gegen Expansion, riskante neue Technologien oder die Einführung neuer Konsumgüter – Spielern durch die Erfahrung der Konsequenzen ihres eigenen Handelns in einem sicheren Umfeld die Entwicklung vorausschauender Planungskompetenzen.
Dass ökonomisches Handeln hier scheinbar stark von ethischen Belangen getrennt wird, ist nicht automatisch negativ zu bewerten, denn die Spieler selbst leben in einer ökonomisch geprägten Welt, deren komplexe Dynamik oft genug hinter moralischen bzw. moralisierenden Diskursen verschleiert wird – Anno 2070 macht die sonst im Hintergrund verborgenen weltumspannenden Systeme globaler Logistik ohne jeden erhobenen Zeigefinger sichtbar und eröffnet sie so der Diskussion.
Zukunftsbewusstsein (TK 2&4)
Daneben bietet Anno 2070 auch einen ungewöhnlich faktischen Blick auf das Klimawandelszenario: Während A new beginning sich wie ein Großteil der dem Phänomen gewidmeten Serious Games primär mit der Möglichkeit bzw. der Verhinderung des katastrophalen Klimawandels befasst, ist dieser in der Welt von Anno 2070 schon unumstößlich Realität geworden: Das Faktum des Zusammenbruchs der globalen Ordnung prägt die Welt als Ganzes und bietet Rezipienten einen tiefen Einblick in eine Welt, in der der Klimawandel ohne wenn und aber eintrat und unauslöschliche Spuren hinterließ. Ein Vergleich mit den harten Realitäten der Diegese von Anno 2070 – zwischen lokalen Wetterkatastrophen, Rohstoff- und Energiekrisen sowie gewalttätigen Auseinandersetzungen bis hin zum Atomkrieg – mit der aktuellen Realität der Spieler bietet darüber hinaus weiteres Potential für ein gemeinsames Erarbeiten von Zukunftserwartungen und -szenarien jenseits klassischer Science-Fiction-Utopien.
Kollektive Erfahrungen (TK,2,4,5)
Daneben bietet Anno 2070 im Gegensatz zu A new beginning auch explizit ins Spiel verankerte Möglichkeiten kollektiver Erfahrung: So besitzt das Spiel einen Mehrspielermodus, in dem bis zu vier menschliche Spieler gleichzeitig im Endlosmodus oder Minikampagnen miteinander und gegeneinander spielen können. Die bereits angesprochene Möglichkeit, aus der Beobachtung von Entwicklungen und den Konsequenzen von eigenen und beobachteten Handlungen komplexe, sonst kaum erfassbare Probleme und Prozesse zu verstehen, wird im Kontakt mit ‚echten‘ Mitspielern noch verstärkt. Dabei ist vor allem die außerhalb des Spiels stattfindende Kommunikation über vergangene Partien und der Austausch über die unterschiedlichen Herangehensweisen an die Lösung von Energie- und Umweltproblemen relevant. Diese unter spielenden Schülern anzuregen, wäre eine der Hauptaufgaben für Verantwortliche, die Anno 2070 im Rahmen der Nachhaltigkeitsbildung nutzen möchten. Gleichzeitig werden selbst Spieler, die absolut kein Interesse an der Teilnahme an stundenlangen Mehrspielerpartien haben und die Einzelspielerdimension des Spiels bevorzugen, zur Interaktion mit allen anderen Spielern eingeladen: Denn Anno 2070 gestaltet nicht nur sein Hauptmenü als die Desktop-Oberfläche eines futuristischen Weltbürgers, es bringt auch das aus zahlreichen Science-Fiction-Szenarien bekannte Konzept einer globalen Demokratie auf diese Oberfläche. Beim ‚Einloggen‘ in die fiktive Desktop-Oberfläche werden so neben den neuen Emails von Nicht-Spieler-Figuren und Fraktionen (z.B. Gratulationsschreiben der Ecos für die letzte geglückte Mission) auch regelmäßig aktuelle Abstimmungen der futuristischen e-Demokratie von Anno 2070 eingeblendet. Die – allen mit dem Internet verbundenen Spielern zugänglichen – Abstimmungen beschäftigen sich mit Problemen der wirtschaftlichen und ökologischen Restrukturierung, also der Organisation von Forschung, Infrastruktur, Renaturierungsmaßnahmen etc.. Die Vertreter der drei Fraktionen präsentieren jeweils unterschiedliche Lösungsvorschläge für die Probleme, welche bei einem erfolgreichen Ausgang der Abstimmung jeweils bestimmte Vorteile für im Lauf der folgenden Woche gespielte Einzel- sowie Mehrspielerpartien bewirken. Sollte zum Beispiel bei der Abstimmung über den fachlichen Fokus eines neu eingerichteten Think-Tanks der Vorschlag der Tycoons durchgesetzt werden, sind alle Laboratorien aufgrund der stark pragmatischen Ausrichtung ihrer Forscher deutlich produktiver. Sollten die Ecos die Abstimmung gewinnen, wird dagegen von den nachhaltigkeitsbewussten Forschern das Risiko von Unfällen minimiert. Spieler werden so auch außerhalb des eigentlichen Spiels nicht nur ständig mit – für sie durch die Effekte der Entscheidungen persönlich relevanten – Fragen nach Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit konfrontiert, sondern durch die Anzeige der Ergebnisse (z.B. Spieler X hat ebenso wie 37% aller Abstimmenden für den Vorschlag der Tycoons gestimmt) auch ständig an die kollektive Konstitution dieser Entscheidungen erinnert. Diese Verbindung von Spielaktivität, narrativer Präsentation und tatsächlicher sozialer Involvierung setzt sich in den „globalen Kampagnen“ fort, in denen alle mit dem Internet verbundenen Spieler gemeinsam an der Lösung eines zentralen weltweiten Problems wie einer Wirtschaftskrise, der Bedrohung durch Terroristen mit Massenvernichtungswaffen etc. mitwirken. Dies geschieht folgendermaßen: Jeder Spieler trägt durch das erfolgreiche Beenden einer der Teilmissionen einer Minikampagne mit einem jeweils vom Schwierigkeitsgrad der Mission abhängigen Kontingent an Einflusspunkten zu einem globalen Punktestand bei. Sollte der benötigte Punktestand nach Ablauf des Zeitlimits erreicht sein, gilt das Problem als gelöst – alle involvierten Spieler profitieren. Diese – wenn auch nur indirekte – Anregung globaler Kooperation findet sich in dieser Form in keinem anderen Aufbaustrategiespiel und bedarf einer weiteren wissenschaftlichen Untersuchung, bietet sich hier doch einer der seltenen Fälle, in denen ein globales Problem wie der Klimawandel in einem Spielmedium mit ‚realer‘ globaler Kooperation konfrontiert wird.
4. Fazit und Ausblick
In den vergleichenden Analysen des Adventure Games A new beginning und des Aufbaustrategiespiels Anno 2070 ließ sich aufzeigen, dass beide Electronic Games gerade durch ihr genrespezifisches Storytelling ein hohes Potenzial für die Förderung von Gestaltungskompetenz aufweisen. Während A new beginning durch die Zeitreise eine zu rettende Welt und einen zu verhindernden Klimawandel in Aussicht stellt, liegt in Anno der Fokus auf dem Wiederaufbau einer teilweise zerstörten Welt und der Anpassung an die Folgen des Klimawandels. Gerade weil sich die beiden Games in ihren Ausgangspunkten und Konzeptionen grundlegend unterscheiden und sich von Serious Games dadurch abgrenzen, dass eben nicht der Lerneffekt, sondern die spannende Geschichte sowie der Spielspaß im Fokus stehen , kann ein breiter Kreis unterschiedlicher Spielertypen erreicht werden. Indem Nachhaltigkeitsaspekte zum festen Bestandteil des Gameplays werden, sind die Rezipienten aufgefordert, sich damit auseinander zu setzen, um im Spiel voran zu kommen. Die realistische Ausgestaltung der Spielwelten legt gleichzeitig nahe, die nicht zuletzt durch die emotionale Einbindung ins Spielgeschehen gewonnenen Erkenntnisse auch auf die Lebenswelt zu übertragen und in Bezug zur eigenen Gegenwart zu reflektieren. Um diese Beobachtungen zu vertiefen, wäre eine weiterführende Forschung an der Schnittstelle von Game Studies und Nachhaltigkeitsbildung notwendig, die der verallgemeinernden Problematisierung von Electronic Games zukunftsfähige Konzepte für einen konstruktiven Umgang mit diesen „mächtigen Werkzeugen“ entgegensetzt.
Literatur
Robert Baumgartner (LMU München)
Robert Baumgartner arbeitet nach dem Erwerb seines M.A. in Neuerer deutsche Literatur an der LMU München und der University of Leeds an seinem Promotionsprojekt zu den räumlichen bzw. raumbildlichen Vermittlungspotentialen des Computerspiels. Daneben ist er auch als Redakteur und Autor beim akademischen eJournal Paidia. Zeitschrift für Computerspielforschung sowie als Lehrkraft für Projekttutorien an der LMU München tätig. Neben den Game Studies beschäftigen ihn auch Fragen nach Transmedialität, den Texten und Theorien der Phantastik, Raumtheorie, sowie die Literatur und Epoche des Spätrealismus.
Elisabeth Hollerweger (Universität Siegen)
Elisabeth Hollerweger hat von 2000-2002 Germanistik/Allgemeine Linguistik an der Universität Passau studiert und 2004 an der Universität Freiburg promoviert. Nach Tätigkeiten als Mentorin an der FernUniversität Hagen sowie als freie Lektorin arbeitet sie seit 2007 als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Siegen. Dort hat sie 2012 unter der Leitung von Prof. Dr. Berbeli Wanning die Forschungsstelle Kulturökologie und Literaturdidaktik mitbegründet und ist seither für Lehrangebot, Koordination und Vernetzung verantwortlich. Ihr Forschungsschwerpunkt ist dabei das besondere Potential fiktiver Geschichten zur Förderung von spezifischen Nachhaltigkeitskompetenzen. In diesem Zusammenhang hat sie eine Fortbildung zur Bildungsreferentin für nachhaltige Entwicklung sowie den Aufbaustudiengang Umweltwissenschaften mit dem Abschluss Umweltmanagerin erfolgreich absolviert und bei der Virtuellen Akademie Nachhaltigkeit (www.va-bne.de) eine Online-Veranstaltungsreihe zum Thema „Fiktive Erfahrungsräume zur Kompetenzvermittlung von BNE“ realisiert.